Sturm. 1:13 Uhr. Ich bin auf einer Höhe von etwa tausend Metern, hat mir SoSo in der Homebase vorhin, gestern Abend, am Telefon gesagt. Heute ist ja schon heute. Das Zischen der Böen in den verkrüppelten – ja, was sind das für – Bäumchen, unter denen das Zelt steht, knorrige, in Schlangenlinien gewachsene Zwerge mit vielen dürren Ästen. Am Abend, als ich das Zelt aufbaute, halb gebückt, auf einem eigentlich ganz schönen Platz in der Weidegegend, sagte ich mir, ich muss aufpassen, dass ich mir nicht einen der Äste ins Auge oder in den Hals ramme. Alles spielt sich auf Schulterhöhe ab. Darunter duckt sich das Zelt. Jedenfalls hat mich das Zischen des Windes geweckt und ich bemerke, dass Innen- und Außenzelt auf der windzugewandten Seite aneinanderkleben, weshalb Wasser eindringen konnte. Also raus in die Kälte, die Heringe neu setzen. Zappenduster. Sterne sieht man nicht. Der Himmel ist bedeckt. Das nächste Dorf, Vianos heißt es, glaube ich, dürfte drei, vier Kilometer entfernt sein. Wäre ich doch bloß dahin gefahren gestern Abend! Um zwanzig Uhr blitzte die Sonne und ich rollte mit zwanzig, dreißig Sachen aus dem gewundenen Tal unterhalb eines 1428 Meter hohen Passes und plötzlich, eine andere Gegend. Kahl. Steinig. Wunderschön, aber zum Zelten, zudem windgeschützt, wirste da wohl nichts finden. Irgendwo im Hinterkopf gaukelte die Idee, ein Hostal zu suchen, ein Zimmer zu mieten, aber wenn man so lange in der Einsamkeit war, fällt einem der Gedanke schwer, unter Mnschen zu gehen, womöglich mitten in der Stadt über einem Restaurant in dem bis spät abends Janda ist, ein Zimmerchen zu mieten, sei es auch noch so trocken.
Mein verflixter Verstand, seine Weitsicht, seine Fähigkeit zur Spekulation, seine abgrundtiefe düstere Phantasie, die binnen weniger Sekunden eine ganze Welt zurechtzaubern kann. Verflixt. Aus einem möglicherweise existierenden Hostal mitten in einem winzigen Dorf macht er eine die ganze Nacht lärmende Bude und nun, da ich im Zelt hocke und den Böen zuhöre wie sie die Spitzen der Krüppel kitzeln, malt dieser gleiche perfide Verstand das Bild eines windzerfetzten Zelts und Dauerstarkregen. Dabei rütteln die Böen nur ab und zu sanft an den Zeltwänden. Der Platz ist eigentlich gut gewählt.
Es gibt keinen Grund, nicht zu schlafen, nun, da ich die Heringe neu gesteckt habe.
Diese Reise ist schon speziell. Bringt mich mehr denn je an meine Grenzen. Was war die Tour ans Nordkap doch ein Spaziergang dagegen. Was hatte ich damals Wetterglück, denn ich stelle mir manchmal vor, ich hätte ein Tiefdruckgebiet erwischt Ende August in Lappland. Dann hätte es zum Nordkap auch anders ausgesehen.
Dort oben einen Sturm haben, oha. Die zwei Tage von Havøysund nach Olderfjord, schon auf dem Weg zum Flughafen, waren exemplarisch. Starker Gegenwind. So wie jetzt hier. Aber dort konnte ich mich gemütlich auf ein Vorankommen mit fünf bis zehn Kilometern pro Stunde einlassen, denn ich hatte das Ziel ja schon erreicht und genügend Zeitreserve, um zum Flughafen zu trödeln.
Hier? Jetzt? Wenn der Sturm anhält brauche ich zwei Tage bis zum nächsten Bahnhof in Almuradiel. Ich hatte schon vorgestern in Erwägung gezogen, ab dort den Zug nach Jaén zu nehmen, denn meine selbst abgesteckte Route weißt ab Almuradiel bis etwa dreißig Kilometer südlich in Carolina ein Stück Land auf, in dem es offenbar keine Radlerstrecken gibt, mehr noch, wie das GPS zeigt, gibt es dort nur eine Autobahn. Schwer denkbar, dass man dort mit dem Radel fahren darf. Zudem ich, der stark und schnell befahrene Straßen meidet wie der Teufel das Weihwasser. Nein, nein.
Nun tippe ich diese Zeilen gegen die Schlaflosigkeit und gegen den Lärm des Windes. Starke Böen können schon mächtig erschrecken und ich weise mein Hirn an, sich die Extremfälle vorzustellen, nicht etwa um die Angst zu schüren, sondern, um mir selbst klarzumachen, wie dumm es ist, sich Sorgen zu machen. Ich will mich in einen Was-kann-schon-passieren-Zustand versetzen und ich denke, das sollte man viel öfter tun, wenn man irgendwelche Sorgen wälzt. Die Was-kann-schon-Passierens dieser Welt benennen und dann sind sie schon nicht mehr so schlimm. Der Spirituskocher könnte zum Beispiel das Zelt in Brand setzen. Ich nutze ihn bei Kälte manchmal als Heizung. Funktioniert prima. Was kann schon passieren? Das Zelt ist futsch, ich habe mich aus der Tür gerettet, packe meine Habseligkeiten und radele die drei Kilometer, zudem abwärts, ins Dorf, wo ich mich im Windschatten der Kirche herumdrücke, bis der Morgen graut.
Oder der Wind wird so stark, dass er das Zelt niedermetzelt. Mal abgesehen, dass das unwahrscheinlich ist, siehe Fall Feuer im Zelt. Und überhaupt, diese Reise mit dem Ziel Gibraltar, was kann schon passieren, wenn jetzt eine Woche Schlechtwetter angesagt ist? Ich niste mich in einem Hostal ein. Auf den nächsten zehn, zwanzig Kilometern gibt es garantiert eins. Das letzte, das ich sah, liegt auf der anderen Seite des 1428 Meter hohen Passes, da könnte ich mit Rückenwind wieder zurückradelen, oder ich rufe ein Taxi, das mich zum nächsten Bahnhof bringt. Also was kann schon passieren?
Ich stopfe mir jetzt ein Stück Klopapier in die Ohren. Vielleicht kann ich dann noch ein bisschen schlafen.
Oh weh, das klingt gruselig. Wenn ich nicht wüsste, dass du ein starker Mensch bist und zugleich ein klitzeklein bisschen zum Dramatisieren neigst, hätte ich jetzt richtig Angst.
Besorgt bin ich dennoch.
Pass gut auf dich auf!
he jürgen, nach jedem sturm scheint auch wieder die sonne! falls nicht, kannst du dich ja auf eine zeit mit meditieren oder ähnlichem einstellen. wenn dann moos zwischen deinen zehen herauswächst bist du schon kurz vorm durchbruch.
wünsche dir ein gute weiterkommen.
so long