Eins

Den Januar habe ich mit Nichtstun verbracht. Ich saß vorm Holzofen in der Künstlerbude, legte die Füße hoch und starrte an die frisch gestrichene Wand. Manchmal las ich ein Buch. Oft spielte ich mit dem Smartphone, auf dem ich kommunizierte per Mail oder per Twitter. Täglich schaute ich mir das Wetter in einer App an und beobachtete die Prognosen für die kommenden Tage. Der Winter ließ auf sich warten. Im Garten knospten Bäume und Lilien reckten ihre spitzen Köpfe aus der Erde.

Mitte des Monats hatten wir dann doch noch echten Winter mit Schnee und Dauerfrost. Aber die Zeiten, dass sich die Kälte bis März hält, sind wohl vorbei. In Gedanken plante ich eine Fahrradreise nach Süden, die am 2. Februar, an Lichtmess, starten sollte. Aber nur, wenn das Wetter radeltauglich ist. Radeltauglich heißt für mich: kein Dauerfrost und nachts nicht kälter als minus drei Grad. Es sollte auch nicht regnen, so meine stille Forderung.

Wenn ich sage, ich habe den Monat mit Nichtstun verbracht, so ist das nicht ganz richtig. Ich weiß nicht, ob es überhaupt möglich ist, gar nichts zu tun. Neben einiger körperlicher Arbeiten im Atelier und im Holzschuppen und im Hühnerstall habe ich viel nachgedacht über das Leben, die derzeitige, alles andere als schöne Situation weltweit, ließ mir Nachrichten zwischen den Hirnwindungen zergehen, bekam gar ein bisschen Panik, dass rundum alles den Bach runtergeht, dass Land und Leute im kollektiven Schmutzschlachtwahn versinken, dass sich die Schlingen um unsere Hälse immer enger ziehen und erst recht die um die Herzen und dass es irgendwann vielleicht gar nicht mehr möglich sein wird, frei durch den Kontinent zu radeln, weil wieder überall Grenzen, Kontrollen und Angst herrscht. Dass man als wild zeltender „europennerischer“, freier Typ mit Fahrrad und Gepäck argwöhnisch beäugt wird und in einem unangenehmen Spießrutenlauf die Lande durchqueren muss, die man noch vor fünf, zehn, zwanzig Jahren offenen Herzens und mit einem Lächeln auf den Lippen erforschte. Kälte, die von Innen kommt.

Diese Gedanken bremsten meinen Enthusiasmus ebenso, wie sie ihn beflügelten, wobei die Beflügelung eher aus einer Art Torschlusspanik rührt: tue es jetzt, bevor alles zusammenbricht. Ich weiß, diese Gedanken sind vielleicht ziemlich klein und egoistisch, aber ich gehe jede Wette ein, dass andere Menschen auch solche Gedanken hegen.

Wenn ich in meinem Blog weiter geschrieben hätte, wären nur drei Artikel entstanden. Es gab nicht viel zu erzählen. Ich erlebte nicht viel und ich war auch nicht in der Laune, etwas mitzuteilen. Zwei der Artikel sind beim Fahrradfahren entstanden, denn natürlich wollte ich den Winter auf seine Radelbarkeit abklopfen, und so schwang ich mich bei Nebel und Schneeregen aufs Fahrrad und radelte etwa sechzig Kilometer weit hinüber nach Frankreich und wieder zurück. Mit dem Fazit: es könnte klappen, auch bei diesen Witterungsbedingungen. Frühere Touren im Winter mit Übernachtung im Zelt liefen ja auch, aber das ist lange her. Vor einigen Tagen feierte ich meinen fünfzigsten Geburtstag.

Der Winter fühlt sich vorbei an. In der Künstlerbude ist es mollig warm. Die Wasserleitung, die unisoliert dreißig Meter an der Hauswand entlang führt, ist seit ein paar Tagen wieder in Betrieb. Ich könnte im Garten auf den Frühling hin arbeiten. Aber ich habe beschlossen, mit dem Fahrrad nach Gibraltar zu radeln. Ein Vorhaben, das ich schon seit 1990 immer wieder angehe, und das mich etliche Male nach Südfrankreich und Spanien gebracht hat. Den Extrempunkt, fast im Süden der iberischen Halbinsel zu erreichen, ist mir jedoch bisher nicht gelungen. Zwei mal endete die „Expedition“ in der Gegend um Valencia, zwei mal schaffte ich es bis nach Andorra (im verlinkten Artikel wird neben den beiden Zweibrücken-Andorra-Reisen auch das Kunststraßenkonzept erläutert, an dem ich seit zwanzig Jahren arbeite). Die kürzeste Fahrradtour mit der Absicht, Gibraltar zu erreichen, endete im November 1990 schon am ersten Reisetag in Rinnthal im Pfälzer Wald. Und eines Winters, ich glaube 1995 verirrte ich mich nach Marseille, wo ich in den zerklüfteten Calanques einen Monat in einer zerfallenen Hütte am Meer lebte.

Zwei

Ich sollte vorgestern gestartet sein. Den zweiten Februar hatte ich als Wunschtermin für die Fahrradreise nach Gibraltar auserkoren. An Lichtmess. Ich mag das Wort Lichtmess. Lichtmess fühlt sich nach Hoffnung an. Nach wieder aufwärts. Nach ich habe den langen, garstigen Winter überlebt und nun beobachte ich sture Krokusse, wie sie die Erde durchbohren, wie sie zurückkehren, wie wieder Leben in die Bude kommt, wie wieder Regung in diesen Planeten kommt, wie alles, was überlebt hat sich nach und nach aus dem Winterschlaf erhebt, den Raureif abschüttelt, in die Sonne blinzelt. Die religiöse Bedeutung von Lichtmess? Ich kenne sie nicht. In Religionen bin ich nie festgewachsen.

Kraft kehrt zurück. War vielleicht nie weg. Vielleicht ist es mit der Kraft ja so, dass sie nur ab und zu mal schläft, dass sie eigentlich immer da ist, aber nicht aktiv, nicht spürbar. In den scheinbar kraftlosen Phasen, die man durchstehen muss als Mensch, ist sie stets da, aber sie ruht friedlich unter der Decke der Realität, die man sich vorstellen muss, wie ein dickes, unsichtbares Fell, das keinen Blick zulässt, auf das, was es einhüllt.

Das Projekt Gibrantiago hat für mich eine ganz persönliche Note. Vielleicht ist es der Höhepunkt meines Reisens, meines Daseins auf dieser Welt. Eine Art Finale für alle bisherigen Reisen. Immerhin versuche ich seit 1990, diese eigentlich unbedeutende Landmarke im Süden der iberischen Halbinsel, den Felsen von Gibraltar, mit dem Fahrrad zu erreichen. Und habe es bisher nicht geschafft. Dabei ist Gibraltar ja gar nicht der südlichste Punkt Europas. Also warum überhaupt sollte ich diesen Ort als Ziel wählen?

Hier kommt der Glaube ins Spiel. Die selbstgezimmerte Realität, die Vorstellung einer Fiktion … es ist völliger Humbug, auch nur irgendeine Landmarke, dieser Erde als Ziel auszuerkehren. Egal, ob man nun zum Südpol will, zum Nordpol, oder gar zum Mond, all diese Ziele sind nur von Menschen gemachte, in kollektivem Einvernehmen bestimmte Extremziele, die es im Prinzip nicht wert sind, dass man nach ihnen strebt.

Ein fernöstlicher Weiser, habe ich einmal gehört, empfiehlt in einer Anleitung für Staatsführer ohnehin, die Menschen sollen zu Hause bleiben. Sie sollen nicht weggehen. Das Erstrebenswerte im Leben sei, die innere Ruhe zu finden, und die findet man nunmal am Besten daheim in seinem richtigen Leben, dort, wo man seinen Mann steht. Ich weiß nicht, wer das gesagt hat, vermutlich war es das Tao Te Ching. Ich weiß nicht, ob es wahr ist. Ich weiß nicht, ob ich das richtig verstanden habe. Ich weiß nicht, ob das einen Sinn ergibt. Ich weiß so gut wie nichts. Vielleicht ist es nur eine Vorstellung, die in mir gewachsen ist. Vielleicht sind auch Gibraltar, der Nordpol, der Mond und der Mount Everest nur eine Vorstellung. Vielleicht gibt es diese Welt außerhalb meiner Vorstellung gar nicht, oder sie ist nur eine von Milliarden Parallelwelten. Jeder Mensch hat seine eigene Vorstellung von der Welt in sich. Und alle sind sie wahr.

Im Hier und jetzt halten mich familiäre Verpflichtungen (nein, Verpflichtung ist das falsche Wort) von der geplanten Reise ab. Ein Pachtvertrag will endlich besiegelt werden. Morgen haben wir einen Termin vereinbart. Ein Fetzen Papier, der über die langfristige Nutzung von Land entscheidet. Ich bin nicht überzeugt von Fetzen Papier. Ich bin auch nicht überzeugt vom Miteinander auf Erden und noch viel weniger vom Gegeneinander.

Meine schlimmste Qual diesertage ist der Tod. Er kommt mit großen Schritten und frisst sich durch die Familie. Die Generation meiner Eltern ist jetzt in einem Alter, in dem der Tod einfach so und plötzlich kommen kann. Man kann sagen, das ist eben so. Menschen altern. Menschen vergehen. Aber nun, da die Altvorderen in die Achtzig gehen, ist die Bedrohung unübersehbar. Fast alle aus der Generation meiner Eltern sind angezählt durch quälende Erkrankungen, komplizierte Operationen, Krankenhausaufenthalte. Den Anfang machte mein geliebter Onkel im letzten Winter. Drei Monate lang lag er zwischen Leben und Tod im Krankenhaus, ehe er, einer Patientenverfügung sei Dank, auf eigenen Willen endlich gehen durfte. Bei seiner Beerdigung im Frühling fluchte mein anderer geliebter Onkel, hoffentlich haben wir jetzt eine Weile Ruhe vor dem Tod. Noch auf dem Friedhof. Er ging am Stock, aber er strahlte energisch. Was liebte ich ihn für diesen verzweifelt wütenden Ausspruch!

Nun liegt er seit einem Monat im Krankenhaus. Und sein Leiden, angeschlossen an eine Beatmungsmaschine geht mir verdammt nah. Es verfolgt mich bis in die Träume, die diesertage so real scheinen, dass ich fast zu zweifeln beginne, was nun die echte Welt ist: die der Träume, oder diese hier (in der ich vor dem PC sitze und dies schreibe). Mal taucht er in diesen Träumen quicklebendig auf und wir scherzen miteinander, er vor mir stehend, übergroß, aber hey, da stimmt doch was nicht mit seiner Nase, das ist eine Protese. Rosa gepudert aus Plastik mit scharfen Kanten zum Gesicht. Dann merke ich, träumend, dass ich träume, will es beenden, falte die Hände, krümme mich, erinnere mich, wie ich ihn das letzte Mal gesehen habe.

Ich wollte ihn im Krankenhaus besuchen. Er sei auf dem Weg der Besserung, sagte man. Vor dem Klinikportal standen die üblichen Raucher und einer tönte groß vor seiner Familie, die ihn umringte, dass die OP am Kopf doch ein Klacks war, es gehe ihm bestens, er freue sich, dass er bald nach Hause könne. Beim Pförtner fragte ich mich zur Station durch, fand das Zimmer. Es war düster in den Fluren. Nur eine fahle Lampe leuchtete im Zimmer. Der Zimmernachbar saß da und mein Onkel schlief friedlich wie ein Embrio in seinem Krankenbett. Die Haare waren auf der Hälfte des Schädels abrasiert. Ein Pflaster auf der Stirn. Im Dämmerlicht konnte ich nicht viel erkennen. Außer Frieden. Ob ich ihn das letzte Mal lebend sehe, fragte ich mich. Wie geht es ihm, fragte ich den Zimmernachbar, der mich nur anstarrte und nicht antwortete. Die Neurochirurgie hat vielleicht die seltsamsten Patienten aller medizinischen Fachkliniken, dachte ich. Alle stehen unter Cortison oder Morphium. Alle sind betäubt, amputiert, ausgeschabt, gerettet, zusammengeflickt, jaja, manche schaffen es ja auch. Ein Buch von Murakami legte ich auf den Nachttisch. Dann ging ich.

Seither Dämmerschlaf des gelebten Lebens. Es tut mir nicht gut, dieses Sterben. Mein Vater ist angezählt, der Schwiegervater meiner Schwester auch, weitere Onkels und Tanten und wir, die Nachkommen laufen wie Lemminge, vorbestimmt von natürlichen Abläufen auf eine Klippe zu namens Zipperlein.

Torschlusspanik. Vielleicht ist es das, was mich antreibt? Ich will mein Schreibgebäude, das ich vor über zwanzig Jahren begonnen habe endlich fertigstellen. Schreiben unterwegs und über Unterwegs, das war mein Ziel, als ich meine ersten Zeilen im Februar 1990 in ein Notizbuch schrieb. Ich war ein bisschen gestrauchelt im Karriereleben, durch Zivildienst aus dem Studium gekugelt und mit seltsamen Typen zusammengeraten, die mir die Lektüre von Jack Kerouac, Nin, Miller, Celine, Hamsun, Shalev und so weiter ans Herz legten. Jack Kerouac hatte es mir besonders angetan. Weil er nur zwei Jahre nach meiner Geburt starb, phantasierte ich manchmal, dass seine Seele in diesen zwei Jahren zu mir gewandert sei. Ich weiß, das ist Quatsch. Aber ich mag den Gedanken. Und Kerouac hätte das bestimmt auch spannend gefunden. Seelenwanderung zu Lebzeiten, weiß man da schon mehr darüber?

Schreiber werden. Oder Künstler. Oder einfach nur irgendwas mit nicht dazugehören. Ich glaube, das war das Programm, dessen Befehlsschlaufen ich durchlief. Nach zwanzig Monaten Zivildienst und all den Kunst- und Schreibflausen im Kopf war jedenfalls nicht gut Anknüpfen an ein Leben als Ingenieur. Der Cremonaplan meiner Existenz geriet zu einer unzusammenhängenden, verfahrenen Skizze, die eher ein Gemälde von Miro hätte sein können, als ein konstruktives Etwas, das alle Kräfte im Spiel grafisch darstellte.

 

 

Drei

Die Nacht ist klar. Ich sehe einen Stern zwischen den kahlen Zweigen des Nussbaums vor meinem Atelier. Zum Rauchen gehe ich nach draußen. Und um die Katze zu füttern. Und um ein Bier aus dem Kasten zu holen, den ich gestern gekauft habe. Ich schaue in den Himmel und überlege mir, wie schon so oft, dass hier bei mir unten ist und dort, bei dem Stern oben. Warum ist das so, frage ich mich. Warum denke ich so? Warum kann ich nicht einfach positionslos sein in all dem Großen. Ein Punkt in der Unendlichkeit beobachtet ebendiese Unendlichkeit und wundert sich über die Unendlichkeit der Unendlichkeit, ohne wirklich zu ahnen, ob die Unendlichkeit unendlich ist, oder nur unendlich erscheint, weil dem Punkt, mir, nicht alle Kenntnisse vorliegen.

Liegen nicht seit unendlichen Zeiten denjenigen, die über Unendlichkeit sinnieren nicht alle Fakten vor, die sie benötigen würden, um zu verstehen. Was zu verstehen? Alles. Was zu wissen? Nichts.

Vier

Ja, ein live geschriebenes Buch fordert.

Es erzeugt Kapitel wie diese. Situationesque Etwasse. Aus dem Stand herause, scheinbare Nichtswürdigkeiten. Sterne betrachtend, die frische Nachtluft genießend.

Siehst Du das Licht zwischen den Wolkenfetzen. Sind das Wolkenfetzen? Ist das Licht? Oder sind das nur Schleier, die sich vor die Linse schieben, und dahinter etwas Helles aus dem All, dessen Name nicht genannt werden kann?

Jenseits schimmert die Stadt. Man hat 24 neue Laternen aufgestellt, steht in der Zeitung, und eine neue Brücke über den heimischen Bach habe sieben Millionen gekostet. Aufdringlich tropft Wasser aus der Regenrinne im stählernen Wasserfass vor der heimischen Kulisse.

Du wirst ihr den Rücken kehren, bald.

Ein wütendes letztes Geschirrspülen

„Ein wütendes letztes Geschirrspülen“, damit sollte man mal einen Roman beginnen. Ich habe mich zurückgezogen in die eiskalte Küche der Künstlerbude, einen düstren Raum, in dem es keinen Ofen gibt, und in dem sich das Geschirr der letzten Tage fast bis zur Decke stapelt – ich übertreibe theatralisch – dennoch, es stapelt sich und nur dank geschickter Einweichmethoden habe ich verhindert, dass die Essensreste in den Töpfen und Tellern eintrocknen. Eine Arbeit von vielleicht zehn, zwanzig Minuten mit per Wasserkocher erhitztem Spülwasser. Nebenan im Wohnzimmer auf dem Sofa liegt alles, was ich für die Fahrradreise nach Gibraltar zusammengetragen habe, Kleider, Schlafsack, technisches Zeug, Zahnbürste, Seife und so weiter. Ich muss es nur noch in die Packtaschen stopfen und dann kann ich los. Am PC sind auch alle wichtigen Dinge erledigt, letzte Mails geschrieben, letzte Webseitenupdates gemacht, sogar noch eine Webvisitenkarte für einen Freund habe ich heute erstellt. Und nun der finale Cleansweep. So betrachte ich mich im Spiegel über der Spüle, wie ich nach und nach Teller, Tassen, Töpfe und Besteck in die Spülschüssel voll heißen Wassers tue. Ein dreitagebärtiger Typ starrt mich an, rasieren wäre auch eine Idee. So kurz vor dem Abflug alles resetten, was nur geht. Es ist elend kalt draußen. Die Sterne blitzen. Vielleicht wird das wieder eine Frostnacht. Auf jeden Fall sollte ich das Wasser, das durch eine überirdisch an der Decke der Scheune verlegte Kupferleitung bis in die Künstlerbude fließt, nachher abstellen.

Ab Morgen werde ich wieder auf dem Radel sitzen und mich aus den beiden Plastikflaschen versorgen, die ich gerade gefüllt habe. Kühles, klares Wasser aus heimischem Boden. Wie lange reichen die zwei Liter? Einen Tag?
Es hat endlich begonnen. Starten wollte ich die Reise ja schon am zweiten Februar, an Lichtmess. Das war so eine fixe Idee. Das Wort Lichtmess gibt mir von anhin ein Gefühl für ‚wieder aufwärts‘, für ‚ich habe den Winter übererlebt‘. Deshalb hatte ich den Tourstart auf Lichtmess gelegt.

Doch dann lag mein geliebter Onkel im Sterben und starb am achten Februar. Als wir ihn am neunzehnten beisetzten, erlebte ich den Tiefpunkt dieses Jahres, da bin ich mir fast sicher.
Menschen, die auf Löcher im Boden starren. Vielleicht dreißig vierzig Zentimeter durchmessende Etwasse, in denen eine Urne liegt. Die Asche, das einzige, was übrig blieb. Gut hundert Trauernde waren auf dem Friedhof. Mein Vater, sein Bruder, einer der ersten am Grab, legte eine gelbe Rose nieder und ich folgte, zusammen mit Frau SoSo, die mir Kraft gab und wir legten unsere Rosen auf die andere Seite des Lochs. Dicht nebeneinander. Es war schlimm.
Ich sollte nicht so viel persönliches Zeug erzählen in diesem Buch, und dennoch, vielleicht ist es genau jetzt an der Zeit, mit persönlichem Dingen zu beginnen? Ich weiß es nicht.
Was ich weiß ist, dass ich mit meinem Livereiseprojekt, das 2010 begonnen hat, und das man in dem alten Blog www.irgendlink.de nachlesen kann, nun weitermachen werde, dass ich weiterhin versuchen werde, einen Weg zu finden, unterwegs und direkt Literatur zu schaffen – so eine Art Versuch, das Kerouacsche ‚On The Road‘ am offenen Herzen zu operieren.

Es hat begonnen. Hier daheim an der unschönen Spüle. Ein bärtiger Kerl im Schummerlicht der sechzig Watt Deckenlampe.

Eine Sinfonie freitagabendlicher Fußballlokalmatadore #Gibrantiago

„Was ist das für ein kleine Licht in die Wald“, übersetzt der Mann, nachdem ich ihm schulterzuckend sage, dass ich nicht so gut französisch spreche (und gedanklich hinzufüge, nicht gleich am ersten Tag, ich bin ein bisschen raus aus der Sprache). Gerade eben habe ich das schwer bepackte Europennerrad einen Waldweg hinaufgeschoben, der vom schön geteerten Radweg auf dem Plateau Grünholz abzweigte. In Richtung Flutlicht. Und nun stehe ich hier neben dem Sportplatz von Lemberg, einer kleinen Stadt in Lothringen. Das Freitagabendstraining ist im vollen Gange. Ob er eine gute Zeltplatzmöglichkeit wisse, frage ich den Mann. Wie es wohl da hinter dem Sportplatz aussieht, ob man da zelten könne. Das sei ein schöner Platz, sagt er. Keine Anstalten, zu fragen, was, bei der Kälte willst du zelten? Er nimmt es einfach so hin, dass da „eine petite Lumière aus la foret“ kommt und nach einer Zeltplatzmöglichkeit fragt. Sicher hätte ich in Lemberg auch ein Zimmerchen auftreiben können. Ich hätte nur in die Bar im Zentrum gehen müssen und mich dort durchfragen. Das hatte ein Junge empfohlen, den ich vorhin nach Zeltmöglichkeiten und Chambres d’hôtes, Gästeszimmern, gefragt hatte. Aber da hatte ich wohl insgeheim schon beschlossen, dass ich mir den Sportplatz einmal näher anschaue. Sportplätze sind immer gute Wildzeltkandidaten. Es mag gegen zwanzig Uhr gehen. Das Training ist in vollem Gange. Dank des Flutlichts, das gespenstisch den Wald erhellt, finde ich einen guten Platz, weich belaubt, scharre die Äste weg, stelle das Zelt auf. Derweil böllern die Bälle, gleich mehrere, und der Trainer lässt seine Trillerpfeife jaulen. Was für ein Konzert. Eine Sinfonie freitagabendlicher Fußballlokalmatadore. Die Bälle scheppern an den Zaun, man hört die Jungs, wie sie sich gegenseitig etwas zurufen und zuguterletzt gibt es ein stakkatoähnliches Stop and Go-Training – ich weiß nicht, wie man das nennt – der Trainer ruft in kurzen Abständen immer wieder Stop und zwischendurch hört man das Scharren bestollter Schuhe auf dem Ascheplatz.

Um halb neun geht dann das Licht aus. Stockdunkel plötzlich im Zelt. Ich koche Nudeln und eine Gemüsesoße auf dem Trangia. Der erste Tourtag hätte wohl besser kaum laufen können. Sogar bei der Abreise, beim Abschied von meinen Eltern und all den anderen Hofbewohnern, hatte ich ein glückliches So-ist-es-gut-Gefühl, das ich beim Start ans Nordkap im letzten Sommer nicht hatte. Ich durchquere Zweibrücken wahrhaft gordonknotesk, da sich der Radweg wie ein Verkehrsweg gewordener Gordischer Knoten unter zahlreichen Brücken hindurchwindet und Schlaufen einlegt, die sich nie und nimmer ein normaler Verkehrsplaner ausgedacht haben kann. Aber dann, jenseits der Stadt geht es den Bächen folgend hinüber nach Frankreich und ich lande schließlich auf dem neuen Radweg Pirmasens-Bitche. Nachdem ich kürzlich schon einen Teil in Richtung Pirmasens erkundet hatte, ist nun das Reststück ins lothringische Kleinstädtchen Bitche dran. Ein Sahnestückchen, das sich an idyllischem Bach vorbei an Mühlen ins Festungsstädtchen schlängelt. Kein einziges Mal muss man auf der Straße radeln und der Anblick der wuchtigen Festung, die bestimmt fünfhundert Meter lang ist oder gar einen Kilometer, hoch über den Häusern und ganz oben auf dem Steinklotz throhnt eine Kapelle, dieser Anblick ist ebenso erschreckend wie faszinierend. Sicher kann man die Festung auf Google Earth erkunden.

Viertel vor sechs ackere ich ein kleines Sträßchen hinaus Richtung Lemberg, wo ich, das war da noch der Plan, mir ein Zimmer nehmen werde. Das Sträßchen folgt einer stillgelegten Bahnlinie, überquert sie mehrfach, plötzlich wird es still. Kein Verkehrslärm mehr und nach fünfzig Kilometern auf dem Sattel dunkelt es. Ein eigenartiges Bild habe ich plötzlich im Gepäck, das ich vor eben noch drei vier Stunden in Zweibrücken sah: tausende Herzchen, kuhaugengroße Papierschnipsel auf dem Zweibrücker Herzogplatz, barocke Rathauskulisse, Standesamt, jemand hat geheiratet, ein bärtiger Typ im Gothic-Mantel überquert den Platz, an einer Ecke wird gebaut, die Szene vermittelt ein trügerisches Alles-ist-in-Ordnung-Gefühl. Streiche trügerisch. Alles ist in Ordnung an diesem ersten Reisetag.

Hier möchte man mal Häuschen spielen #Gibrantiago

Die Éclaire-Weihe gebe ich mir in Lemberg in einer Bäckerei. Das erste Éclaire im fremden Frankreich ist immer das Beste. Die pappigsüßen Dinger sehen aus wie eine Wurst im Blätterteigmantel, aber es sind mit Schoko- oder Vanillecreme gefüllte Etwasse mit einem harten Überzug aus Schokolade oder Vanille.Verschmierten Mundes stehe ich vor der Bäckerei. Sonne wärmt. Da spricht mich ein anderer Radler an, ob der Rahmen meines Radels aus Titan sei und streichelt über das Rohr und zeigt mit dem Kinn hinüber zu seinem Rennrad, das ganz genau die selbe Anthrazitfarbe hat. Alu sage ich, obschon ich mir dessen nicht so sicher bin. An seinem Helm klebt ein winziger Rückspiegel. Wir schwatzen ein bisschen, wie alt, woher, wohin, dass er zehntausend Kilometer pro Jahr radelt und über seine Radlerkollegen, der eine zum Beispiel, ein hagerer Kern, den man als KZ-Model casten könnte (hierbei zieht er die Backen zum Hungergesicht ein und lacht entschuldigend für den politisch unkorrekten Vergleich), dieser Kumpel war neulich beim Arzt wegen einer Herzgeschichte und die Diagnose lautete, Arterie zu vierzig Prozent verstopft, zu vierzig Prozent, wiederholt er und erst ab sechzig gibt’s ’nen Stent und der Arzt habe diesem Kumpel, ich stelle ihn mir mittlerweile als einen durchtrainierten Triathleten vor, emfohlen, er solle doch mehr Sport treiben. Haha.

Von Lemberg radele ich über mehrere Aufs und Abs durch Goetzenbruck und einen Weiler mit dem klangvollen Namen Huhnerscherr nach Wingen an der Moder, stets auf meiner alten Strecke Zweibrücken-Andorra (die Karte könnt ihr hier sehen ⇒ https://www.google.com/maps/ ) sozusagen durch mein 1500 Kilometer langes Wohnzimmer. Wunderschöne, kaum befahrene französische Sträßchen hinauf nach Phalsbourg, einer alten Vauban-Festung und hinab zum Rhein-Marne-Kanal bei Lutzelbourg. Dort folge ich dem Kanalradweg westlich. Ein Radlerisches Zuckerstückchen ist sicher die kurze Passage hinauf nach Arzviller, die über 13 Schleusen (oder mehr) in kurzer Folge durch ein felsiges Tal hinaufführt, stets direkt neben dem Kanal. Zwei Kanalhafen sind in der stillgelegten Passage. Teilweise verläuft der Radweg auf einem Steg, der auf Stahlpfosten mitten im trockengelegten Kanal gebaut wurde. Die alten Schleusenhäuschen sind meist renoviert und bewohnt. Nummer 12 und 13 wären noch frei. Ruinen ohne Dach. Hier ein Radlertreff aufbauen, das wärs, oder ein Klettertreff, denn direkt dahinter erhebt sich roter Fels. Hier möchte man mal Häuschen spielen, murmele ich. Mantrisch kurbelnd.

Es ist den ganzen Tag über ziemlich kalt. Windig. Ich glaube, den höchsten Punkt hatte ich in La Petite Pierre erreicht, wo ich bei einem Käsehändler vor dem Château ein Stück sündhaft teuren Käses aus einer Molkerei in Riquewihr (nahe Colmar) kaufe. Er selbst wohne in Straßburg und sei sozusagen fliegender Käsehändler (macht lenkende Handbewegung). Der Junge friert, trotz seines dicken Anoraks. Wie hoch ist La Petite Pierre? Fünfhundert Meter?

Ich frage mich auch, wie die vielen Motorradfahrer, die mir begegnen (tolle kurvenreiche Strecke), diese Kälte verkraften. Ich als Radler habe immerhin die Eigenwärme, die ich beim Berghochradeln produziere (beim Abwärtsrollen, friere ich mich fast kaputt, rolle langsam, bremse mich voran).

Hinter Arzviller folgt eine Art Ebene durch weites Weideland. In Guntzviller bin ich fast versucht, in einer Auberge abzusteigen, so kalt, so trist, doch dann erbitte ich Wasser bei einem wortkargen Kerl, der gerade seine Einkäufe aus dem Auto lädt und bereite mich auf die Zeltplatzsuche vor. Am Kanalradweg Richtung Sarrebourg wird sich doch wohl ein Plätzchen finden.

Es gibt einen Zweitäler-Radweg, der ungefähr meiner alten Strecke folgt, die ich 2000 und 2010 nach Andorra geradelt bin.

Nun sitze ich hier im Zelt nahe Lorquin auf einer rauhbereiften Wiese am Zweitälerradweg. Ziemlich trüb heute. Ab elf soll es regnen, sagt die Wetterapp. Auf der Tastatur sind die Umlaute ausgefallen und das P und das Fragezeichen. Es knnte ein komischer Text werden.

Von Lorquin nach Chamagne #Gibrantiago

Blick aus dem Fenster, schreib’s groß FENSTER. Nebel sickert. Blick schweift über Dächer und Schlote, endet an grauen Mauern mit anderen Fenstern. Je weiter die Dinge weg, desto grau. Der Nebel ist eine Graumachmaschine. Der natürliche Feind der Sonne.Das Moseltal hat bestimmt viel Nebel. Aber es ist auch ein Idyll. Weideland und Gärten und Obstanlagen, wie war nochmal der französische Name für Obstanlage? Meine Gastgeber Marie und Dominik haben mir viel erzählt über die Gegend, das südliche Lothringen, das Obst, die Gärten und das 300 Jahre alte Haus, das einst, wenn ich es richtig verstanden habe, vom Polenkönig Stanislaus als Jagdhaus erbaut wurde. Daher auch der riesige alte Kamin im Erdgeschoss, in dem man gut eine Wildsau aufgespießt grillen könnte.

Axtbehauene Holzbalken, dazwischen modern isolierte und geweißte Decke. Die Zentralheizung brummt. Es ist warm. Bettdecke. Kuschelmatratze. Ein uralter, dunkelbrauner Intarsienschrank.

Was hab ich gefroren gestern, als ich aus den Feldern östlich von Bayon hinabgeradelt war, die Route verlief über ruhige Landstraßen, umspielt von eisigem Nordostwind. Heute ein Zimmer, sagte ich mir und radelte unbekümmert am einzigen Hotel in Bayon vorbei. Im Nachbarort wird es schon etwas geben, eine Auberge. Wir sind hier an der Mosel. Da gibt es Touristen. Wanderer. Radler. Pah. Nicht im Winter. Eine geschlossene Gîte d‘ étape. Das sind glaube ich so eine Art Ferienhäuser, gekennzeichnet mit einem grüngelben Symbol, worauf Frankreich abgebildet ist.

Im nächsten Dorf, Chamagne, gibt es zwei Restaurants. Gutso. Wo Essen, da Schlafen. Das erste Restaurant ist zu. Ich erkenne ein paar Leute durchs Fenster. Die Belegschaft? Niemand steht auf, um mir Infos zu geben.

Marie und Dominik sind die Einzigen, die ich nach Zimmern fragen kann. Nein, sie wissen keine Auberge in Chamagne. Aber in Charmes gibt es ein Hotel. 4,5 Kilometer bis zum Kreisverkehr, über die Brücke, an der Ampel scharf rechts. Sie erklären es mir zweimal und ich muss immer wieder darüber staunen, wie Menschen anderen Menschen den Weg erklären. Es ist ein Fest. Schon sitze ich wieder auf dem Radel, da rufen mich die Beiden zurück. Das Haus sei groß, ich könne ein Zimmer haben.

Aber keine Umstände, sag ich, da lacht Marie, sie haben fünf Kinder und zwölf Enkel, da sei sie das Bettenmachen und Zimmervorbereiten gewöhnt.

Später beim Abendessen, zu dem ich natürlich auch eingeladen bin, kommt mir ein Gedanke in den Sinn, den ich schon morgens hatte: das Bild von den Menschen und Europa, das man in den Sozialen Medien bekommen kann, will so ganz und gar nicht mit dem übereinstimmen, was mir hier und jetzt hier draußen begegnet.

Du Radel, ich Hornbrille und Fiat #Gibrantiago

Verflixt. Die Streichhölzer sind alle. Zwar gibt es Ersatzstreichhölzer in den Packtaschen, draußen am Radel, aber ich habe keine Lust, das Zelt zu verlassen. Eben noch habe ich Kaffee gekocht mit dem letzten Streichholz, dann arglos den Kocher ausgemacht, der aber eine prima Zeltheizung ist. Draußen ist alles weiß. Die bisher kälteste Nacht. In Fontenoy-le-Château, bis wohin der Kanalradweg ab Épinal am Canal de l’Est führt, war partout kein Zimmer zu kriegen. Alles vernagelt. Viele Häuser verlassen, mit ‚À Vendre‘-Schildern gespickt, das ganze Dorf. Zudem war gestern Montag. Und montags haben auf dem Land hier in der Gegend alle Läden zu. Der einzige Hoffnungsschimmer ist eine Bäckerei, in der es auch Konserven zu kaufen gibt. Komme um 16:30 wieder, hängt ein handgeschriebener Zettel an der Tür. Der Bäcker begegnet mir auf der Straße um viertel nach vier, er muss zur École, zur Schule, das Kind abholen. Und da muss nun das ganze Dorf warten vor dem Laden. Ein Typ mit Hornbrille, der mit einem winzigen, roten Fiat knatternd vorfährt. Klingt nach Zweitaktmotor, das Auto. Und jener andere Mann, den ich kaum verstehe wegen seines Dialekts. Unisono sagen alle, es gibt keine Zimmer in dem Dorf. Kein Hotel. Der Camping ist zu. Das Café, montags geschlossen und der Laden auch. Die Schule, gleich um die Ecke bringt Leben ins Dorf. Busse fahren vor, Schulaus um 16:30. Vereinzelte Eltern, zu Fuß, lümmeln vor dem Schultor. Reden miteinander. Dann quellen die Kinder aus dem Schulhaus. Dann öffnet die Bäckerei, kaum hundert Meter davon entfernt. Dann ist der Laden plötzlich rappelvoll. Ein aufgeregter Junge kommt herein und redet auf alle ein und als er wieder hinaus geht, an mir vorbei, redet er auch auf mich ein, die Scheißerei sei ausgebrochen, soviel verstehe ich, ein Virus, man müsse aufpassen. Kurz nach fünf verlasse ich das Dorf über die D40 nach Saint-Loup-sur-Semouse. Da gebe es Zimmer, sagt man mir, aber es seien 15 Kilometer und zwar bergauf. Kaum Netz im ganzen Dorf. Ich sende Frau SoSo verzweifelete Botschaften, dass ich vielleicht nicht mehr erreichbar sein werde die nächsten Stunden, quetsche Bit um Bit durchs fluktuierende Netz und laufe, das Smartphone hochhaltend, orientierungslos wie ein Huhn hin und her. Vielleicht die ganze Nacht werde ich nicht erreichbar sein. Das französische Mobilfunknetz ist eine Scheibe und wer sich zu nah an den Rand wagt, der stürzt ab. Das Dorf ist ein Idyll. Mit dem Typ mit Hornbrille und knatterndem Fiat würde ich gerne die Leben tauschen. Ich bin berauscht von seiner Biografie, die ich mir innerhalb Sekundenbruchteilen zurechtphantasiert habe: Ex Fremdenlegionär, Schäfchen ins Trockene gebracht, alles Übel dieser Welt verdrängt in den Tiefen der eigenen Seele, nun Landschaftsmaler, lebt von geraubtem Gold in einem zerfallenden alten Häuschen. Oder schreibt. Ob er sich innerhalb der wenigen Sekunden, die wir einander begegneten auch so ein Bild von mir zurecht phantasiert hat? Er würde mich vielleicht für verrückt halten, wenn ich ihm vorschlüge: „Du Radel, ich Hornbrille und Fiat“. Dennoch.

Am Ortsrand vermietet einer eine Garage. Ich überlege, ob ich sie vielleicht für eine Nacht mieten soll, das Zelt darin aufbauen. Besser, als bei zu erwartenden Minusgraden draußen auf einer Weide. Dennoch weiter, durch ein schmales Tal und nach wenigen Kilometern bin ich plötzlich oben in einem Weideland mit einzelnen Gehöften und, oh Wunder, das französische Mobilfunknetz ist gar keine Scheibe, es geht weiter, ich habe wieder Empfang. Beim Dorf Cuve finde ich in der Dämmerung eine schöne Wiese. Die Bergaufradelei hat mich erwärmt. Das macht Mut, das Zelt aufzubauen. Nach achtzig Kilometern bin ich müde, keine Lust, mich in Saint-Loup nach einem möglicherweise potemkinschen Zimmerchen durchzufragen. Ein guter Platz, obschon er direkt unter einer Flugroute zu liegen scheint, in regelmäßigem Abstand donnern Flieger durchs Idyll.

Radlerlatein und Marmeladenexperimente #Gibrantiago

Heute der erste Tag, an dem ich lieber zurück, als nach vorne schaue. Die Schlechtwetterprognose in der Smartphone-App baumelt wie ein Damoklesschwert. Dabei sieht es, wenn ich hier aus dem Fenster der Herberge ‚La Caroline‘ in Filain schaue, eigentlich nur grau aus. Kein Regen. Das Thermometer, das ich nachts rausgelegt habe auf die Fensterbank, zeigt vier Grad. Drinnen hat es zwölf. Ich sitze im Schneidersitz auf einem der vier Betten, auf dem, in dem ich auch geschlafen habe, und tippe direkt auf dem Smartphoneschirm. Die externe Tastatur ist nun endgültig kaputt. Fast komme ich mir vor wie auf dem Camino 2010, als ich ‚Schon wieder ein Jakobsweg‘ auf dem glatten Minibildschirm tippte. Mein allererstes Livereiseprojekt.

Gestern war ein kalter Tag. Durch Weideland und Wälder ackerte ich auf und ab bis nach Vesoul, die letzten 33 Kilometer auf der D10, die zwar nicht allzu stark befahren war, aber dennoch nervte. Ich hatte mich so sehr an Kanalradwege und kaum benutzte Ministräßchen gewöhnt.

Immer nur kurze Stopps, um etwas zu essen und zu trinken. Kalter Südwestwind. Seichte Sonne. So stelle ich mir die Luft in Peking vor bei Smogalarm. Nur in braun und dreckig und unatembar.

Dann Vesoul. Große Stadt. Wohnblocks. Sinti-Wohnwagensiedlung am Ortseingang. Supermärkte, Elektronikläden, Kanalarbeiter, Baustellen, Polizisten, ein Stau, ein Park, etwas das aussieht wie ein Kurhaus. Backtempel. Ich hatte nicht den Nerv, mich länger in der Stadt aufzuhalten. Die Wohnblocks bedrückten mich. Menschen, die dicht auf dicht mit Menschen leben. Müssen. Nach einer Touristinfo suchte ich erst gar nicht, sondern radelte direkt, dem GPS folgend zu dem Radweg, der eingezeichnet ist und der aus der Stadt hinausführt nach Osten. Acht Grad zeigt ein Thermometer. Mein Gefühl sagte vier.

Am Radweg fragte ich einen Jungen, wie weit der Weg wohin führt. Zwanzig Kilometer Deine Richtung und dass man nur hier in Vesoul etwas zu essen kaufen könne. Da draußen an der Piste Verte gibt es nichts, ah Moment, doch, da könnte eine Épicerie sein in einem der Dörfer.

Da ich genug Essen hatte, radelte ich ohne einzukaufen auf der ehemaligen Bahntrasse. Stets leicht berghoch. Bis zu jener Épicerie, ein Lebensmittelladen in Dampierre sur Linotte. Am Radweg hat man sogar einen Lageplan mit Hinweisen auf Metzgerei, Bäckerei und Den Laden aufgehängt. Das ist alles andere als üblich. An französischen Radwegen findet man kaum Informationen über die Umgebung. Sogar Bains-les-Bains habe ich auf der Radroute Nr. 50 umfahren, ohne auch nur einen winzigen Hinweis auf die Stadt vorzufinden.

Es scheint, als koche hier in der Gegend jede Gemeinde ihr eigenes Radlersüppchen. Hinweisschilder gibt es oft. Aber nur aufs nächste Dorf. Wenn man Glück hat, findet man eines der seltenen Hinweisschilder auf den Eurovelo 6, der am Doubs entlang führt. ‚Vers Eurovelo 6 Belfort 75 km‘ konnte ich irgendwo vor Vesoul lesen. ‚Vers Eurovelo 6 43 km‘ stand kürzlich an meinem Bahntrassenweg. Das mündet dann in Ougney auf den Doubsradweg.

Radlerlatein.

Gerade hab ich gefrühstückt. Madame Magaud macht wunderbare Marmeladenexperimente. Zucchinimarmelade mit Limette zum Beispiel. Tomate-Aprikose usw.

Draußen platscht nun doch Regen. Ringe in Pfützen, mal stärker, mal schwächer.

Ich will nicht da raus, aber hierbleiben ist auch keine Option. Nun denn teste ich die frisch imprägnierten Regenkleider.