Was für eine schlimme Gegend. Seit zig Kilometern radele ich durch hügliges, monotones Flachland auf einer Straße mit meterbreitem Standstreifen, die mäßig bis erträglich befahren ist. Die Sonne kommt ab Balaguer, wo ich eine Mittagspause vor einer Neubauruine mache, langsam durch, es ist warm, die Welt ist eigentlich schön und ich dürfte mich über das bisschen Kargheit gar nicht beschweren. Hinter mir in der Ruine steht noch ein Kran, auf dessen Ausleger einige Storchennester sind. Die Tiere klappern und fliegen permanent ein und aus mit Nestmaterial im Schnabel oder Nahrung für die Jungen. Schnurgerade rauscht der Fluss durch die Stadt. Ich glaube, er heißt Segre.
Über die C 12 auf der rechten Flussseite radele ich weiter gen Lleida. Durch die recht große, aber irgendwie unheimlich stille Stadt hindurch und mit jeder Pedalumdrehung häufe ich mehr Trostlosgefühl in mir an. Eine Einsamkeit wie in den letzten Tagen habe ich selten gespürt. Diese Reise ist um einiges härter, als die Reise letzten Sommer ans Nordkap und ich frage mich, woran das liegt. Vielleicht weil immer irgendwas hakt. Schnee und Kälte vor vier Wochen in den Vogesen, Regen und Großstadtgetümmel um Lyon, der Tramuntanawind nördlich der Pyrenäen, die Passfahrten zwischen Olot und hier waren dagegen ein Vergnügen. Lieber Berge und Stille, als Flachland und Hektik.
Da kommt es gerade recht, dass Frau SoSo in der Homebase den Flieger gebucht hat. Am 20. April muss ich also in Jerez de la Frontera sein und fliege mit Umstieg in Madrid zurück nach Zürich.
Südlich von Lleida gibt es um das Städtchen Aitona wenigstens ein bisschen Abwechslung. Felsen wie aus einem Wildwestfilm, bröckelige rotbraune Konglomerate, hinter denen man sich den Grand Cañon zurechtdenken kann oder das Tal des Todes, aber links von mir dieses ewige Obstbäumchenland, künstliche Bewässerung, Menschen, die mit Schmalspurtraktoren und düsenantriebähnlichen Giftgebläsen hindurchfahren, erste Blüten in weiß und in rosa.
Dazu Gegenwind. Staubwolken. Dieselruß. Nein, das tut nicht gut und es wird äußerst schwer, einen Zeltplatz zu finden. Campings gibt es in dieser Gegend nicht. Auf jedem Gehöft bellt ein Hund und der strenge Gegenwind erfordert eine bestimmte windgeschützte Zeltplatzlage.
Kilometer um Kilometer kurbele ich so dahin in einer Art demütig lethargischen Stimmung, ab und an versuche ich abseits ein Plätzchen zu finden, hinter den Mauern einer Klosterruine zum Beispiel, werde aber sofort von wie-aus-dem-nichtsen Hunden auf die Straße zurückgebellt, überlege in einem frisch gegifteten Obsthain zu zelten, oder ein Herbergs- oder Hotelzimmer … da tut sich dieses verlassene Grundstück kurz vor dem Zusammenfluss von Segre mit einem anderen Fluss auf, puuh. Ideal windgeschützt. Unweit des Städtchens Granja.
Wenn ich an den Flug denke, denke ich automatisch auch an Wahrscheinlichkeiten. Wie groß etwa die Wahrscheinlichkeit ist, abzustürzen. Ich hasse Fliegen. Eingedost mit hundertfünfzig Menschen, beschleunigt auf tausend Kilometer pro Stunde eine Strecke, die man wochenlang per Fahrrad erobert hat einfach so zurückzuspulen, wie Zeitraffer.
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit von einem LKW überfahren zu werden? Im Straßengraben sieht man immer wieder Plastikflaschen mit gelber Flüssigkeit. Das ist Urin. Die pinkeln da rein. Während der Fahrt. Die essen am Steuer, sie telefonieren, lesen Zeitung, stemmen die Füße aufs Armaturenbrett und was man noch für Horrorzeugs von gelangweilten Fahrsklaven hört, die immer unter Zeitdruck unsere Waren durch den Kontinent karren.
Ich darf mich nicht beschweren. Bisher gab es keine kritische Situation und die meisten Auto- oder LKW-Fahrer nutzen, im Gegensatz zu denen bei uns daheim, die ganze Straßenbreite, um einen Radler zu überholen. Auch wenn er auf dem Seitenstreifen fährt.
Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, in dieser flachen windumtosten, behundeten, privtabesessenen Gegend einen windgeschützten Wildzeltplatz zu finden?
Aber was rede ich? Eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein, wenn wir schon bei Wahrscheinlichkeiten sind. Eigentlich müsste ich jetzt in Oliana auf dem Campingplatz die Zeit totschlagen und abwarten, bis mein Ersatz für das gebrochene Schaltauge per Express aus Deutschland geliefert wird. Denn die Wahrscheinlichkeit, in Oliana oder in der Umgebung eins zu kaufen, das genau passt, war wohl kleiner, als die, im Lotto zu gewinnen. 2500 verschiedene Schaltaugen gibt es. Winzige Alustückchen mit Löchern drin, die am Fahrradrahmen festgeschraubt werden und als Sollbruchstelle fungieren, falls die Schaltung sich mal verhakt, so wie bei mir. Dann ist wenigstens nicht der ganze Rahmen im Arsch, haben sich kluge Ingenieure wohl gedacht.
Vorgestern fabulierte ich also erst einmal darüber, wie schlimm die Situation ist und hatte mich schon mit einer Woche Zwangsferien in Oliana abgefunden. Ich wollte zur Autowerkstatt, die man mir empfohlen hatte, und mir das Ersatzteil an die dortige Adresse bestellen, falls sie das kaputte Teil nicht schweißen oder durch ein selbstgeschnittenes und gebohrtes ersetzen können. Den Weg zur Werkstatt hatte man mir abends schon erklärt, dennoch verirrte ich mich und fragte einen Mann, der gerade in sein Auto stieg, wie ich zum Mechanico komme. Komm’ mit sagte er (auf spanisch, wie in Piggeldy und Frederick), stieg in sein Auto, fuhr vor mir her, stoppte nach ein paar Ecken, klingelte an einem Wohnhaus. Es dauerte eine Weile. Die Balkontür ging auf. Ein verschlafener Mann stand da. Mein Frederick erklärte ihm die Sachlage. Er nickte, un Momento. Plötzlich, eine Tür geht auf. Plötzlich, gerade groß genug, dass man das Fahrrad samt Gepäck reinschieben konnte, nur zu, nur zu, bring doch die Sachen erstmal rein, was ist das Problem, Hand am Kinn, Haare raufen, muy Problemo, muss ich nach Andorra fahren, das Ersatzteil holen, oder, ja klar, kannst du das an unsere Adesse schicken lassen, dich auf dem Camping einquartieren, immerhin ein Lichtschimmer.
Aber der Mann hatte noch immer Denkfalten auf der Stirn, tänzelte ums Rad, wuselte in der winzigen, etwa garagengroßen Werkstatt, durchwühlte Kisten, findet ein Schaltauge, passt nicht, murmelte wieder Andorra, muy Problemo, wühlte weiter, drückte mir einen Fahrradrahmen in die Hand, der kürzlich kaputt ging. Neunhundert Gramm wiegt das Ding, was sagste nun, beäugte ein in Reparatur befindliches Fahrrad, das auf den Montagebock geklemmt war, schraubte die Schaltung ab, schraubte auch das Schaltauge ab, legte mein gebrochenes Schaltauge auf das andere, passt.
Ein Wunder. Ich könnte heulen vor Glück.
Die Reparatur mit Reinigung von Zahnkränzen und Schaltung, Luft auf die Reifen, ach, und bei der Gelegenheit auch noch die marode Tretkurbel festziehen, dauerte insgesamt drei Stunden. Jordi, so heißt mein Fahrradengel, redete die ganze Zeit rege auf mich ein, Tranquillo, tranquillo, immer wieder und ich assistierte, wunderte mich, dass ich zwar weder spanisch noch katalanisch spreche, aber doch durch meine romanische Grundbildung, das bisschen Französisch und Latein, einiges verstehe, wenn ich nur genau zuhöre.
Am Ende stehen 64 Euro auf der Rechnung und auf diese kurze, gemeinsame Reparturaktion hin eine seltsame Art neue Freundschaft, denn irgendwie sind wir uns, fremd wie wir waren, Jordi und ich, verdammt nahe gekommen, so im Vorbeigehen zwischen einem Problem und dessen Lösung.
Obwohl ich es ja schon kannte, das Happyend, sind da nun ein paar Tränchen namens Dankbarkeit – auch weil du so toll schreibst – geflossen.
🙂 macht Kussgeräusch.
Wirklich toll, dieses Erlebnis. Echt Glück gehabt, lieber Jürgen – aber das weißt Du ja selber, auch ohne meinen Kommentar.
Zum Thema “Überholen mit weiten Abstand, auch wenn man auf dem Seitenstreifen radelt”: hierzulande wird einem geraten, ziemlich weit in der Fahrspur zu radeln [wenn man nicht einen wirklich breiten Seitenstreifen zur Verfügung hat], um die Autofahrer so zu zwingen, auf die andere Seite der Straße (oder in die linke Fahrspur) auszuweichen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das (in den meisten Fällen) sogar stimmt: die Autos überholen mit größerem Abstand. Wenn ich dagegen an der rechten Fahrbahnmarkierung klebe, donnern sie oft mit 70 Meilen so nahe an mir vorbei, dass ich dem Beifahrer locker die Hand reichen könnte. Da wird mir dann ganz anders. Übrigens: die (ganz) dicken LKWs sind da meistens anders und geben mir viel Raum. Sie bleiben auch oft hinter mir, bis sie die Strecke übersehen und gefahrlos überholen können.
Mach’s gut, und safe bicycling,
Pit
P.S.: Hierzulande wissen übrigens selbst die Verkenrspolizisten nicht, dass ich als Radler die Fahrspur benutzen darf, solange kein Seitenstreifen da ist, der mir ein gefahrloses Radeln darauf erlaubt.
Viele Querelen und viele Engel könnte eine der Unterschriften DIESER Reise heissen.
Jetzt ist es erst einmal gut und ich staune, dass schon in 19 Tagen deine Reise zuende geht.
herzlichst
Ulli, die dir immer einen Engel wünscht, ob er Jordi heisst oder Anjela …