Afrika!, dämmert es mir, ich bin fast bis nach Afrika geradelt. Wenn dieser deutsche Phantast damals, von dem ich in einer Doku im Fernsehen vor etlichen Jahren gehört habe, seinen Damm gebaut und das Mittelmeer in einen gigantischen Gezeitenstaudamm verwandelt hätte, könnte ich einfach so über die Staumauer radeln in meinen Künstlermorgenblümchenträumen, die Welt wäre super okay und alle hätten ihr Brot und niemand müsste darben und das Mittelmeer wäre nicht die Todesfalle, die es für viele ist, die aus dem Süden ins ach so gelobte Europa fliehen.
Regen hängt in den Bergen. Immer wieder weht es Nieselschwaden herein. In Gaucín überlege ich, in einen der Alles-Läden zu gehen und nach einer Regenjacke zu suchen, was aber an meiner Faulheit und mangels kontinuierlicher Nässe scheitert. Diese Alles-Läden sind faszinierende Etwasse. Seit Ronda erst fallen sie mir auf. Wie Höhlen, die man in den Berg gehauen halt, fensterlose Räume, in denen labyrinthisch Regale voller Waren aller Art steht. Vom Spielzeug über Werkzeug und Lebensmittel bis hin zu Kleidern und Campingbedarf.
Im Nachhinein betrachtet ist die Straße zwischen Ronda und Algeciras gar nicht so dramatisch bergig, obwohl sie es sehr wohl ist, aber der Schrecken liegt vor allem darin, dass man erst einmal die Berge erklimmen muss, sowohl wenn man von Süden kommt, als auch – wie ich – von Norden kommend. Rauf auf etwa hundert Meter und ab da hangelt man sich in einigen Aufs und Abs von Dorf zu Dorf. Die Dörfer liegen immer in einer Mulde und es zweigen Straßen ab nach rechts und nach links, in das Val de Genal zum Beispiel, wo sich weitere Dörfer und weitere Verzweigungen befinden.
Kurz hinter Gaucín geht es endlich abwärts in ein sattes, grünes Flusstal. Etwa zehn Kilometer weit und ab da auf einer erträglich befahrenen Straße weiter Richtung Algeciras.
Unten angelangt kommen mir zwei Tourenradler entgegen. Markus und Heidi aus Österreich. Seit drei Jahren radeln sie um die Welt und rollen nun langsam aus Richtung Heimat. Das heißt, sie haben noch drei Monate Zeit, um via Portugal, Spanien und Frankreich und die Schweiz nach Hause zu kommen. Wobei ich mich frage, wo bitteschön denn zu Hause ist, wenn man drei jahre auf den Straßen dieser Welt gelebt hat?
Dass es einen Radweg gibt an der Straße bis fast nach La Línea erzählen sie mir, dass es in den Bergen da oben durchaus möglich ist, Wildzeltplätze zu finden, gebe ich ihnen mit und dass wir Rückenwind haben mögen, sie für sich und ich für mich, wünschen wir einander. Dann zuckeln wir weiter, jeder in seine Richtung.
Mittags döse ich in einem Park in Castellar, dann weiter bis ans Meer bei Guadarranque, dem Felsen von Gibraltar. Was für ein Klotz! Frachtschiffe liegen in der Bucht. Sandstrand. Dahinter eine – ja, was ist das? – Ölraffinerie, massiv umzäunt, Tonnen von Stacheldraht, fast so gut gesichert, wie das Kernkraftzentrum in Frankreich, an dem ich vor einigen Wochen vorbeiradelte. Die kilometerlange Betonwand ist mit wunderbaren Graffiti bemalt. Man müsste sie scannen und in ein längliches Poster verwandeln. Grotesk sieht das aus, dieses freche, Umwelt- und sozialkritische Bunt aus den Hirnen der Künstlerinnen und Künstlern, dahinter die Tanks, der Stacheldraht, Schlote, Rohre, Dreck, verhärmte Palmen. Und Gestank.
Dennoch halte ich Ausschau nach eventuellen Wildzeltplätzen, schließlich muss ich hier wieder zurückradeln auf dem Weg nach Jerez.
Aber erst einmal die Affen. Stau an der Grenze. Ich radele auf dem Gehweg vorbei. Good Afternoon, Sir!, sagt der Zöllner und kontrolliert meinen Ausweis, dann bin ich drin. In der Hektik, dem Gehupe, dem Geröhre, eine ganz andere Welt, dieser Komplex La Línea und Gibraltar. Viele Autos mit Rechtslenker, aber die nativen gibraltaischen Autos haben den Lenker links. Man fährt auf der rechten Straßenseite. An den Zebrastreifen steht warnend auf den Boden geschrieben, Look Left, man zahlt in britischen Pfund. Es gibt Pubs, englische Worte überall, bleich bis krebsrote Beinchen und Ärmchen, und sie fahren wie gesengte Säue. Zwanzig Zentimeter Sicherheitsabstand zum Radler scheinen Usus. Ich ächze auf der zum Glück flachen Straße durch die Stadt. Überall stehen Kanonen, sind Mauern, der wuchtige, hunderte Meter hohe Affenfelsen ist durchlöchert. Die Westseite hin zur Algecirasbucht ist dicht bebaut mit Hotels und Hafenmolen usw.
Der Versuch, das Radel mit Gepäck bei der Seilbahn zum Felsen irgendwo sicher abzustellen, scheitert. Die Fahrt hinauf und wieder zurück hätte etwa 12 Pfund gekostet. Ich habe noch über 30 Pfund in der Tasche von meiner Nordseeumrundung 2012.
Die Hektik schmeckt mir nicht, also radele ich auf der Küstenstraße bis zum südlichsten Punkt. Wind, Kanone, mehr Ruhe, Leere. Keine Affen. Pfälzische Touristen machen ein Foto von mir, mit dem Felsen im Hintergrund und der riesigen Moschee, man sagt, es sei die größte auf dem europäischen Kontinent.
Auf der Ostseite des Felsens muss ich das Radel bis zu einem Tunnel schieben. Militärisches Sperrgebiet, Müllkippe, Krematorium. In der Müllkippe wühlen ein paar Affen. Die Omegatiere, die, die es nicht auf den von Touristen behätschelten Felsen geschafft haben, die Europenner, Typen wie ich, die lieber ganz unten im Dreck wühlen, als sich auch nur irgendjemandem anzudienen, zu hündeln … ich schweife ab, interpretiere zu viel.
Dennoch, wie und wo würfelt es uns hin im Leben, uns Menschen, uns Tiere, uns Lebewesen? Sind das Zufälle? Für Bäume vielleicht, die haben ja keinen Einfluss, wo sie leben, einmal gesät, müssen sie dort wachsen, wo ihr Same einst keimte, aber wir Menschen, wir können doch frei wählen, wir können uns selbst formen, wir können Kraft unserer Gedanken bestimmen, wer wir sind, wie wir uns selbst sehen, wie die Welt uns sehen soll, genau wie dieser Irgendlink, nur eine Figur, die im Internet livereisend ihr Unwesen treibt. Was bin ich doch für ein kleiner feiner, selbstgebastelter Held, Leiter einer digitalen, selbsterfundenen Expedition.
So sieht man mich, respektive diesen Irgendlink, denn wir sind ja nicht deckungsgelich, wenn auch ziemlich, sieht man mich wehenden Haares, dreißigtagebärtig am beinahe südlichsten Zipfel Europas, in die Kamera lächelnd, ein Geschafftblick im Gesicht. Ich müsste die Figur Irgendlink endlich auflösen, dachte ich vor einigen Tagen, denn was ist es denn anderes, als eine Verkeilung verschiedener Selbst- und Fremdbilder, wessen wir als Wesen aufsitzen, worauf wir bis zu einem gewissen Grad immer wieder hereinfallen. Da ist einer, der radelt mit einem Minibudget durch Europa und schreibt live darüber, ist ja nur ein Bild. Das eigentliche Wesen, das sich dahinter verbirgt, ich, euer Autor, ist nur eine grobe Skizze, und wenn man so weit geht, dass man sogar sich selbst, also nicht nur andere da draußen in Bilder verwandeln kann, sie festschreiben als Charaktere, dann ist es nicht weit, dass das Wesen eines Menschen, das Wesen seiner selbst, eigentlich höchst flexibel ist. Man kann sich als Expeditionsheld denken, als Firmenboss, als Tennisstar, als Was-auch-immer, der eigentliche Kern, die Vorstellungsmaschine, die sich dahinter verbirgt und die das, was man vielleicht auch als Selbstwertgefühl bezeichnet, erzeugt, die bleibt geheimnisvoll unter der Decke, unerforschbar, unheimlich.
Vor dem zweiten Tunnel an der Ostseite des Felsens treffe ich dann doch noch auf eine kleine Affenhorde, die mich neugierig beäugt und in den Felsen herumklettert, auf einem Baugerüst, an der Leitplanke, Kräuter pflückend, naschend. Ich packe die Nikon aus, mache Fotos, massenhaft. Faszinierende Tierchen. Ein junger Affe rutscht am Baugerüst ab, kann sich mit einer Hand festhalten, scharrt mit den Füßen an der Schalwand, da kommt ihm ein anderer Affe zu Hilfe, reicht ihm die Hand, versucht, ihn heraufzuziehen, vergeblich. Das Tier stürzt, fällt auf die Füße, rappelt sich auf, klettert wieder hoch.
Wie sie sich wohl selbst sehen, diese Wesen, wie sie wohl mich sehen?
Mit dem Handy orte ich per Internet einen Campingplatz in La Linea, acht Kilometer entfernt, ein Klacks, den ich abends ansteuere. Durchs hektische Gibraltar zurück zur Grenze, wo der Supermarkt bis 22 Uhr auf hat und ich noch ein bisschen Milch kaufe, etwas zu essen und weiter raus über die Grenze, unkontrolliert dieses Mal. Dieses Gefälle ist schon frappierend, wie die reichen Länder ihre Grenzen fast wie Dioden, wie Halbleiter, abschotten, während in die Gegenrichtung die Durchfahrt problemlos möglich ist.
In La Línea gehts auf der Straße am Strand hektisch zu. Fünf Checker lungern in ihrer Limousine. Was machen die da? Koksen? Sind das Zuhälter? Dünkel. Wieso sitzen fünf Gangstertypen dicht gedrängt in einem Auto? Auf der Straße Mopeds im Wettrennen. Einer fährt hunterte Meter weit auf dem Hinterrad. Imponiergehabe. Männleingebaren, wie ich es seit Wochen nicht mehr erlebt habe. Kollektive Balz. Am Straßenrand die Chicas. Zwei Kerle fahren nebeneinander im Schrittempo und blockieren den Verkehr, unterhalten sich durchs offene Fenster. Hunde, Hähne, Esel, ein angepflocktes Pferd auf verwahrloster Wiese, Strand fernab.
Den Camping habe ich auf dem GPS als Punkt markiert, wühle mich durchs Unland vorbei an Zerfall und Wuchs, frage mich durch, finde den Platz. Eine Trutzburg mit Schranke und Zaun und Nachtwächter. Ich soll mein Fahrrad unbedingt absperren, sagt mir die Rezeptionistin. Zweimal sagt sie das. Und so steht es nun neben dem Zelt mit dem fetten Bügelschloss an einen dünnen Baum gekettet. Ich hätte sicher nicht bemerkt, wenn nachts jemand den Baum abgesägt und es einfach mitgenommen hätte.