Gestern war Pannentag … nein, das ist das falsche Wort. Wenn ich ein belgisches Kernkraftwerk wäre oder Fessenheim, dann wäre wohl irgendwas Kritisches passiert, man habe aber die Sache unter Kontrolle, kein Grund zur Beunruhigung und alles geht weiter wie bisher. Typisch Mensch. Den Schweizer Radweg Nummer 5 entlang des Bielersees und des Neuenburgersees und des Jurasüdfußes werde ich wohl nie wieder radeln. Er ist langweilig zwischen Biel und Estavayer und zwischen Yverdon und Sarraz. Danach nervt er mit Flußwegvermeidung und anstrengenden Aufs und Abs bis hinüber in die Weingegend am Genfersee. Dort, wo er die Route 63 kreuzt, die schräg am Jura entlang nach Rolle am Genfersee führt, verlasse ich ihn, obwohl die Karte wieder einmal vorgaukelt, dass er ab nun nur noch an einem Bach entlang führt bis hinunter zum See. Die Route 63 ist zwar auch ziemlich buckelig, aber das habe ich nicht anders erwartet.
Wieder einmal wird mir klar, wie wichtig der Einklang der eigenen Vorstellung mit der Realität ist. Weicht deine Vorstellung ab von dem, was du vorfindest, fühlst du dich schlecht, verkrampfst dich, versuchst auf teufelkommraus den friedlichen Radweg am Fluss, der sich dank deiner Vorstellung auf idyllischen Pfaden durch Auen schlängelt, per Gedankenkraft zu erzeugen, was dem Körper aber ganz und gar nicht schmeckt, wenn er gerade einen Stich von ein, zwei Kilometern hinauf in ein Weindorf kurbelt.
Bei der 63 vermutet der Kopf sofort, das wird eine elende Auf- und Ab-Schweinerei. Realität und Vorstellung sind deckungsgleich. Guter Deal.
Die zwanzig, dreißig Kilometer erinnern mich an die Nordpfalz, wo ich groß geworden bin. Weites, grünes Land war der Slogan meines Landkreises. Weites, buckeliges Land. Der einzige Freund, den ich habe, ist der Rückenwind. Zahlreiche Radler kommen mir entgegen. Meist Rennfahrer mit vollvermummten Gesichtern. Im Gegenwind herrscht strenger Winter. Ich radele jedoch im Rückenwindfrühling nach Westen.
Ein abgestorbener Baum auf beigefarbenem Acker, Waschhäuser in den Dörfern, da: ein Café. Schnell rein. Ich ruhe einen Moment.
Das Ladekabel vom iPhone ist defekt. Haarrisse in Reaktor Nummer eins. Die linke Tretkurbel ist locker, ein Supergau steht bevor. Wenn sich Tretkurbeln lösen, kriegt man sie in der Regel nie wieder festgezogen. Sie sind dann so ausgeleiert, dass man sie austauschen muss. So war es zumindest früher, als sie noch vierkantig und konisch waren. Nun habe ich aber eine mit Sternzacken. Beherzt ziehe ich die Schrauben an, ohne auf die Newtonmeterangaben zu achten, die daneben geschrieben sind. Sitzt wieder. Und nun, da ich dies schreibe, sechzig Kilometer gekurbelt, kann die innere Atomkurbelaufsichtsbehörde in mir Entwarnung geben, alles halb so wild.
Endlich am See. Samstägliches Treiben. Die Pumpe ist wieder dominant. Ein Hin- und Herzischen von Landstraßen und Autobahnen ist das, von Bussen und Schnellzügen, und über allem schwirren die Flieger zum Genfer Flughafen. Wind und Straßengesäusel. Was für ein Konzert.
Der Radweg verläuft auf einer schiefen Ebene am See, nie direkt am Ufer, stets entlang der Autobahn oder der Bahnlinie. Wenn man im Neunzig-Grad-Winkel zur Ebene fährt, muss man für ein paarhundert Meter steil berghoch oder runter oder man muss über 10-15 Prozent-Rutschen eine Brücke erklimmen, um über die Schiene oder Autobahn zu kommen. Ansonsten ist die Route 1, die Rhôneroute, sehr flach.
Und ebenso wie die 5 nicht zu empfehlen. Im Herbst, wenn die Weinlese duftet, könnte es ganz schön sein hier, stelle ich mir vor.
In einer Postfiliale kaufe ich ein iPhone-Kabel. Das Telefon dümpelte den ganzen Tag bei etwa 1 bis 10 Prozent Ladung. Nicht auszudenken, wenn es ausfallen würde. Die Kernschmelze der feinen Künste. Keine Fotos, keine Blogeinträge, kein Twitter. Das gesamte, zehntausendstöckige Reisekunstgebäude hängt an einem dünnen Kupferkabel. Damoklesk.
Nun am Lagerplatz außerhalb von Nyon im Windschatten eines Wäldchens. In der Einflugschneise. Viel über den Mensch nachgedacht und wie er als Gesellschaftswesen insgesamt zu beurteilen wäre, wenn man nicht selbst Mensch wäre. Eine Plage wahrscheinlich? All der Lärm, die Schüsse der Jäger in der Nacht, all die massiven Eingriffe, aber das sind ja nur Haarrisse im Reaktor des Ökosystems.
Jürgen, die Texte zusammengefasst – ich freu’ mich jetzt drauf. Ein ganz anderer Stil, als im Sommer ’15.
Danke Kai. Ich bin gespannt, wie sichs entwickelt.
Rückenwindfrühling und Gegenwindwinter – eine Metapher vom feinsten! Und wir können zwar theoretisch wählen, ob wir gegen oder mit dem Wind gehen, andererseits können wir es oft genug ja doch nicht, weil uns die Richtung durch Umstände vorgegeben ist.
Wobei wir manche Umstände beeinflussen können – andere nicht.
Haarrisse, genau!
Haarrisse — drei Doppelbuchstaben in einem Wort! — sind etwas, das kaum jemanden stört. Aber ihre Konsequenzen, die, die wir alle so oft und erfolgreich verdrängen, sind existenzbedrohend: #Gibrantiago als netzsoziale Plastik (oder Skulptur?) hängt am funktionierenden Ladekabel und damit am funktionierenden Mobiltelefon, anderes an Schutzmänteln und -hüllen. Und ich stelle mir gerade einen Halswirbel vor, der irgendwann mit zuvielen Haarrissen einfach zerbröselt …
Dystopie.
Der Umweg ist oft die kürzeste, die beste Verbindung zwischen den Etappenzielen, glaube ich. Nicht die bequemste.
Haarrisse, aber was für welche!!! ich gestehe, dass ich als mensch unter Menschen doch immer wieder sehr vieles in Frage stellen muss, wenn es ums Leben leben geht.
Und überall immer so viel Plastik und Schrott, ob am Meer, in den Bergen oder hier … an manchen Orten tut es wirklich richtig weh. Menschenzeitalter – m – ich denke an Plastikzeitalter und befand letztens, dass Plasic Ono Band ein schon damals genialer Name war!
hoffentlich jetzt, viele Tage später guten frühlingshaften Rückenwind …