Perspektive #Gibrantiago

Dunkelheit. Kühle Luft. Die Wände werfen das monotone Rattern der Kette zurück. Ich pfeife. Die Reifen machen ein Geräusch, als würde man mit hoher Frequenz Luftpolsterfolie zerquetschen. Der Radweg ist nicht gerade superglatt geteert, aber von dem, was ich bisher in Spanien an Radwegen erlebt habe, hebt er sich angenehm ab. Kilometerweit schon radele ich durch eine unglaublich schöne Landschaft, die von Gebirgszügen eingerahmt wird. Kahle, hellbraune bis graue Felsen mit Tupfern aus Pinienwäldern, davor sattes Frühlingsgetreidegrün, dann wieder terrassenartig angelegte Olivenhaine und auch erste Orangenplantagen mit glänzenden aufdringlich grünen Blättern. Manche der etwa zwei Meter hohen Bäumchen tragen Orangen, andere Blüten, an wieder anderen hängt nur noch die ein oder andere Orange und der Rest liegt, aus unerfindlichem Grund, unterm Baum auf dem Boden.

Die Via Verde im Val de Zafán, ich weiß gar nicht mehr, wann ich erstmals von ihr gehört habe, es ist bestimmt fünf Jahre her, und seither träume ich davon, auf diesem alten Bahntrassenradweg zu radeln. Über Viadukte und Tunnel führt er von Tortosa hinauf nach Alcaníz, so zumindest sah das aus auf der Webseite, die ich einst anschaute. Gut achtzig Kilometer weit vom Meer Richtung Madrid.

In Valdeltormo beim alten Bahnhof stoße ich auf die Route und der erste Mensch, dem ich an dem verlassenen, alten, zerfallenen Bahnhof begegne ist Stefan, ein Schweizer. Er radelt eine Vuelta, sagt er, eine Radrunde, ist seit Barcelona hier in der Ebrogegend unterwegs, nein, das Ebrodelta zu besichtigen lohnt sich nicht, der Eukalyptusstrand ist eine Mogelpackung, da gibts nur einige wenige Eukalyptusbäume, enttäuscht er mich, und er spreche perfekt spanisch, aus Bern kommt er, war bis vor Kurzem Eisenbahningenieur und nun ist er in Rente.

Wir verabschieden uns, treffen uns später wieder, an einem weiteren verlassenen Bahnhof. Ein paar Picknickbänke stehen da. Sonst herrscht Stille. Ab und zu andere Radler. Ein Mann aus den Pyrenäen, der nach Malaga radelt, mit viel Gepäck. Ich zeige Stefan ein paar Blätter, die ich im alten Bahnhof von Fabara mitgenommen hatte. Zu hunderten lagen sie in der alten Lagerhalle, in die man eingebrochen und alle Möbel und Regale zertrümmert hatte und die Wände mit Graffities verziert. Das Blatt ist von 1976 und es sei eine Anweisung, wie man mit Fracht zu verkehren habe, erklärt mir Stefan.

Zwei Männer mit quietschgelben Warnwesten ackern von der Küste herauf. Beeindruckende Räder. Stefan ist sofort Feuer und Flamme für die Technik. Roloff-Nabenschaltung, Titanrahmen und SOLCHE Schlappen. Die Bereifung ist auf alle Fälle besser spaniengeeignet, als meine 28 Zoll-Kümmerlinge. Dennoch, ich darf nicht klagen.

Die beiden kommen aus Belgien. Wie wir den reden sollten, fragt Stefan, französisch wäre besser, sagt der eine Belgier und Stefan redet munter weiter auf Deutsch auf die beiden ein, beäugt die Fahrradtechnik, die voluminösen superwasserdichten Packtaschen, während ich danebenstehe und einfach nur staune ob des plötzlichen Reiseradleraufkommens. Viele Tunnel gebe es da unten, sagen die Belgier und sie zeigen ihren Reiseplan, der sie von Girona am Meer entlang hierher geführt hat und durchs Landesinnere nach Malaga lotst, wo sie am 20. April ihren Rückflug haben. Die beiden haben gezielt einige Vias Verdes in die Tour eingebaut, unter anderem die wohl längste, die in der Stadt Jaen beginnt und bald hundert Kilometer lang ist, wenn ich mich recht erinnere.

Die Val de Zafán mündet nach etwa dreißig Kilometern in die Via Verde del Terra Alta, die am Ebro in die Via Verde Baix Ebre mündet. Alles klar?

Im Grunde handelt es sich um eine einzige alte Bahntrasse, die einst gebaut wurde, um die Kohleminen im Landesinnern mit dem Meer zu verbinden.

Ich folge der Trasse bis fast nach Tortosa, wo sie offiziell endet. Und erlebe eine der wohl atemberaubendsten Radlerstrecken, die ich jemals gereist bin. Versuchte ich anfangs noch, die Tunnel zu zählen, die man durchradelt und die Viadukte, muss ich nun im Nachhinein schätzen, dass es etwa vierzig Tunnel waren und vielleicht dreißig Viadukte auf den gestrigen siebzig Kilometern. Die Tunnel sind bis knapp einen Kilometer lang. Ich schätze, dass ich unter Tage etwa acht Kilometer verbracht habe.

Und der Clou an dem Ganzen, ich habe ein wuchtiges, unzugängliches Gebirge durchradelt, fast ohne Steigungsmeter.

Mein Tagesziel, im Ebrodelta am Meer einen Campingplatz zu erreichen, opfere ich gegen 19 Uhr der Gemütlichkeit und schlage mein Zelt in einem brachliegenden Grundstück in der Nähe des Ortes Jesús auf.

Ich bin trotz aller Reiseroutine etwas aufgekratzt und vermute, dass ich zu schnell bin. Ich erinnere mich, dass ich auf dem Weg ans Nordkap letzten Sommer auch so eine Phase hatte, in der ich drängte und drängte und auf teufelkommraus vorankommen wollte, Strecke machen, Kilometer fressen, mich selbst unter Druck setzte. Und dabei das Gegenwärtige verkommen ließ.

Damals habe ich absichtlich einen Umweg gemacht, bin von Kalix weiter zur Ostsee gefahren, habe im vielleicht nördlichsten Ostseehafen Schwedens eine wunderbare Nacht neben dem Hafengebäude verbracht. Aber damals war doch alles anders, oder, ich hatte Zeit ohne Ende, oder? Hier sitzt mir der knappe Rückflugtermin im Nacken … halt, halt, halt, Herr Irgendlink, vergiss nicht, auch damals saß dir der knappe Rückflugtermin im Nacken, nichtwahr?

Das Verflixte an Terminen ist: wenn man sie erreichen will, denkt man, man habe zu wenig Zeit und wenn man zurückblickt auf einen erreichten Termin, dann hat man immer genug Zeit gehabt.

Alles ist im Kopf.

Schon bin ich heute Morgen auf gnadenlosem Südkurs. Vorbei an Tortosa über ruhige Landstraßen habe ich meinen Weg geplant bis zum Beginn eines weiteren mutmaßlichen Radwegs bei Ulldecona, nur etwa dreißig Kilometer bis dahin, und wenn ich es gut mache, kann ich heute schon in Castellon am Meer sein.

Ich trödele durch Jesús. Betrachte den riesigen Eukalyptus, der auf der Landkarte als Naturwunder ausgezeichnet ist. Er steht ganz in der Nähe der Kirche, vor dem Gemeinschaftsplatz, der an diesem Sonntag noch leer ist. Ein Motorradfahrer sitzt in einem Café, Sonntagsstille. Ich irre umher, radele weiter meinem Weg folgend, bis ich wieder auf die Via Verde Baix Ebre treffe und aus einem Impuls heraus ihr folge rüber auf die andere Ebroseite, ab vom Südkurs, vorbei an einem Flüchtlingsheim. Zig Menschen sitzen gestrandet am Radweg, tanken Sonne, verdrossene Gesichter, beraubt um jedwede Lebensperspektive. 

Perspektive, ist es nicht das, was uns Menschen antreibt, denke ich immer wieder. Nicht Geld und Besitz, sondern eine Aufgabe, die einen nährt. Für Essen und Unterkunft ist ja schnell gesorgt, aber das Wichtigste ist doch, dass man sich eine Zukunft zurechtdenken und einer erfüllenden Aufgabe nachgehen darf. Aber was hast du, wenn du ein Flüchtling bist? Versorgt wirst du ja halbwegs, aber es fehlt die Perspektive.

Was hab ich es doch so gut. Ich radele, schreibe darüber, halte alle zehn Kilometer an und mache ein Foto der Strecke. Eine ganz einfache, selbstgebastelte Perspektive, die mich antreibt, die mich nährt, schon bin ich über die nigelnagelneue Fahrradbrücke auf der nördlichen Ebroseite und beäuge die Schilder, ich kann mir diese Perspektive nur aufbauen, weil ich in einem friedlichen Land lebe, Deltebre steht auf einem der Schilder. Das ist Perspektive pur für den Reisekünstler. Ein Radwegschild, das über Wirtschaftswege entlang von Kanälen und durch Felder hindurch links, rechts, geradeaus, immer weiter leitet, so gelange ich schließlich an diesen Ort, an dem ich auf einer Parkbank diesen Artikel schreibe. 

Eine Eremitage nahe L’Aldea, ein Picknickplatz ist hier. Es gibt Wasser. Kaum Autos fahren vorbei. Ab und zu ein Fußgänger und man kann den Torre de L’Aldea besteigen, ein vielleicht zwanzig Meter hoher Steinturm. Einen wunderbaren Blick über das flache Schwemmland hat man von da oben.

2 Gedanken zu „Perspektive #Gibrantiago“

  1. Ich finde es spannend, wie sich auf deinen Reisen – wohl verstanden von außen betrachtet – eine Art Bogen ‘wiederholt’, mit Phasen von Müdigkeit und Phasen von Voran-Voran.
    Ob es in dir ist oder von außen (Wetter, Flugtermin), weiß ich nicht. Es ist doch so menschlich.

    Die Sache mit der Perspektive: Wie wahr! Sie lässt sich nicht kaufen.

    Gute Weiterfahrt!

  2. Die Orangen (in Tomatengegenden Tomaten) liegen da, weil sie für den Transport schon zu reif sind. Im Allgemeinen hat keiner was dagegen, wenn man ein paar davon nimmt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

%d Bloggern gefällt das: