Manchmal ist es schwierig, die ersten Worte für einen Blogartikel in diesem live geschriebenen Buch zu finden. Beginne ich mit dem Wummern nördlich des Zelts, das irgendwann nachts begann und sich so anhört, als würde ein Bundeswehrhubschrauber Übungen durchführen, alleine, es fehlt das unruhige Hin und Her in der Luft? Oder mache ich einen Ausflug in die Vergangenheit und erzähle von meinem ersten Ebrodeltaerlebnis, jener Nacht nahe Deltebre direkt am Fluss, als wir von einem Rascheln unter dem Zelt geweckt wurden und als wir nachschauten, entpuppte sich das Tier, es ist dringend zu empfehlen, es sich als putzige kleine Maus vorzustellen, als langsam aus seinem Loch kriechender Hummer (oder Flusskrebs, was weiß ich), müde ging er auf die Jagd.
Gestern habe ich auf Twitter einmal versucht, die Geschichte meiner Gibraltarreisen zu rekonstruieren. Ich erinnerte mich, dass ich die erste ‘Expedition’ alleine startete. Kurz nach dem Zivildienst in einem nebligen November in der Nordpfalz. Ich hatte die Taschen voller Entlassungsgeldmillionen, und vier Monate Zeit, um mein unterbrochenes Studium wieder aufzunehmen (damals gab es noch die Wehrpflicht/Zivildienst, der Kalte Krieg lag in den letzten Zügen).
Als ich im kleinen Nordpfalzdorf bei dichtem Nebel startete, schimpfte mich eine alte Frau voran mit den (mehr zu sich selbst, aber laut genug gesprochenen) Worten ‘Der spinnt doch’.
Die Reise ging als meine kürzeste Langstreckenradtour aller Zeiten in die Geschichte ein. Schon am Abend rief ich meine Mutter an und sie holte mich mit dem Familienkombi in der Südpfalz wieder nach Hause. Die Vorweihnachtszeit lässt die Menschen kollektiv nähebedürftig werden, schürt den Wunsch nach warmen Öfen, Lichterglanz, Harmonie, Frieden und Heimeligkeit. Damals konnte ich mich diesem Stimmungsmainstream nicht entziehen und auch heute würde es mir schwer fallen, in die Weihnachtszeit hinein eine eiskalte Radelexpedition alleine zu starten.
Im Januar 1990 startete ich den nächsten Versuch. Ich weiß noch genau, wie ich am dritten Tourtag mit meinem peruanischen Zimmernachbarn den Frühstücksraum der Jugendherberge Kehl betrat und der Jugendherbergszivi uns mit den Worten ‘Es ist Krieg’ begrüßte.
Die Reise führte via Breisach nach Basel und von dort per Zug nach Genf, auf erbarmungslos kalten französischen Landstraßen ins Rhônetal über Vienne bis ans Meer. Den Via Rhôna Radweg gab es vor 26 Jahren noch nicht. Ich radelte über die ehemalige N86 auf der rechten Rhôneseite, die wenig befahren war.
Im Starkregen jagte mich ein Rudel Hunde nach Sète, wo ich versuchte, eine Fähre nach Marokko zu kriegen, um dem Wetterelend zu entrinnen, scheiterte und mich in der Jugendherberge einquartierte. Die Tour wäre an diesem Tag zu Ende gewesen, wenn nicht zwei weitere deutsche Radler dort einquartiert gewesen wären. Krüger und Leb, mit einem ähnlichen Vorhaben, die auch versucht hatten, eine Fähre nach Marokko zu finden. Dabei hatten sie die Rezeptionsöffnungszeit verbummelt und mussten einen Tag länger bleiben. Nur so konnten wir uns kennenlernen. Wir verstanden uns auf Anhieb. Mit Leb bin ich noch immer befreundet.
Gemeinsam radelten wir an der Küste weiter und schaffen es bis kurz vor Castellon. Dort tobte ein mehrtägiger Sturm. Zwei Tage lagerten wir in einer Bauruine. Als wir weiterradelten, hatte Krüger einen massiven Hinterradschaden. Sturmumtost und beregnet standen wir am Straßenrand und es schien keine Hoffnung zu geben, dass wir ohne Schieben weiterkommen. Leb hielt den Daumen raus. Das erste Auto stoppte. Ein Kleintransporter, am Steuer eine Englischlehrerin und ihr Mann. Sie packten uns samt Rädern ins Auto und brachten uns zum Bahnhof in Castellon.
Wetter und Panne hatten uns so arg zugesetzt, dass wir die Reise in Castellon beendeten. Krüger und Leb trampten zurück und ich nahm wieder das Taxi Mama und Papa in Anspruch, das nahe Calpe in einer Ferienwohnung auf mich wartete.
In den 1990er Jahren gab es noch einen weiteren Versuch, nach Gibraltar zu radeln, gemeinsam mit meiner Freundin I. Es muss in einer Weihnachtszeit gewesen sein, entweder 1990/91 oder 1992/93? Ich erinnere mich, dass wir nach dem ersten Tourtag mit völlig verschlammten Schuhen auf dem Weihnachtsmarkt in Speyer drei Bettlern begegneten, die auf uns einredeten, ‘könnt ihr doch nicht machen, mit solchen Schuhen hier auftauchen, die Schuhe sind das Wichtigste’, wie drei Heilige aus dem Morgenland kamen sie mir vor. Diese Reise endete in Peñiscola. Mit in Mülltüten als Handgepäck verpackten Fahrrädern kehrten wir per Zug zurück nach Basel.
Ab dem Jahr 2000 hatte ich meine Reisegewohnheiten geändert und die Kunst hatte Einzug gehalten im Hause Irgendlink. Das Ziel war nicht mehr so wichtig, sondern die Kunstproduktion unterwegs und der Genuss. Unter dem Stichwort ‘Zweibrücken-Andorra’ sind zwei Reisen im Internet dokumentiert, die auf wenig befahrenen Departementsstraßen Frankreich von Nord nach Süd durchqueren. Der Weg wurde in zehn Kilometer Abständen als sogenannte Kunststraße dokumentiert, so wie es auch auf der jetzigen Reiseroute der Fall ist.
Gerade stoppe ich das schwer bepackte Reiserad. Der Wind steht schräg gegen mich aus Süden. Die Sonne brennt. Eine Kette hölzerner Strommasten links der Straße führt das Auge streng Richtung Horizont. Die Leitungen summen im Wind. Die Luft ist schwer und sie schmeckt nach Salz und nach Kräutern und nach Blüten und es ist ihr ein bisschen Staub beigemischt, den ein Traktor fernab in den hellbraunen Äckern aufwirbelt. Hellblau und braun sind die dominanten Farben. Ab und zu hebt sich ein Haus, das nächste Dorf, El Muntell, ist nur schemenhaft zu erkennen. Hier gibt es eigentlich nichts, als Horizont, Himmel, Erde und mittendrin ich, so verloren, so verbissen die Kunststraße fotografierend. Um die 240 Mal schon habe ich in zehn Kilometer-Abständen das Radel gestoppt, um die Straße zu fotografieren, genau wie Google das 1995 von mir abgeguckt hat und das System mittels millionenschwerer Technik perfektioniert hat. So denke ich manchmal, wenn ich über die Kunststraßenfotografie nachdenke. Ich habs erfunden und Google hat es im Netz entdeckt und nachgemacht. Aber das stimmt wahrscheinlich nicht. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Idee so normal ist, dass auch andere Leute darauf kommen, wie ich sowieso denke, dass Ideen ihre Zeit finden und dann gedacht werden und dann realisiert werden und dass es viele verschiedene Menschen sind, die zu ähnlicher Zeit ähnliche Ideen haben, weshalb, so mein trauriger Rückschluss, das Urheberrecht eigentlich kleingeistiger Quatsch ist, denn Ideen, die kollektiv in verschiedenen Köpfen entstehen, könnten auch verschiedene Wachstumsformen ausbilden. Das heißt, wenn per Menschengesetz einer als Urheber einer Idee bestimmt wird, wird allen anderen, die eine ähnliche Idee haben (oder eine Idee weiterentwickeln wollen) das Wachstum ihrer Idee untersagt.
Okay, es ist natürlich auch ein Problem, dass es genügend Ideendiebe gibt. Übel im Kerngehäuse des Menschseins.
Ich schweife ab. Hinter dem Traktor hat sich eine Schar weißer Vögel versammelt, die die frisch aufgerissene Erde nach Nahrung durchwühlen. Vorne links zeichnet sich ein Wäldchen ab. Ist das der berühmte Eukalyptusstrand,von dem mir gestern der Berner Radler Stefan erzählte, er sei eine Mogelpackung, den Eukalyptusstrand gibt es gar nicht, da stehen nur ein paar Bäume und es ist viel Sand dort?
Noch fünf Kilometer bis dahin.
Die Reiseroute habe ich morgens spontan geändert, eigentlich könnte ich schon längst Richtung Castellon unterwegs sein, aber ein Radwegschild lockte mich ab Tortosa ins Ebrodelta. Ich bereue das nicht. Der Radweg führt über geteerte Feldwege in einem Zickzack-Kurs bis zur Ebromündung. Die Gegend ist wunderschön. Schon stelle ich mir vor, dass auf den Feldern bald Reis wachsen wird, dass sie sie irgendwie fluten, quadratkilometerweit, aber wie das vonstatten gehen soll, kann ich mir nicht vorstellen, da ereicht mich per Twitter eine Botschaft von @RecumbentTravelling, er sei 2004 hier durchgeradelt und überall wuchs Mais.
Ich könnte fragen, was hier angebaut wird. Am Eukalyptusstrand steht jedenfalls ein Schneckenpumpwerk, mit dem man gewiss etliche Tonnen Wasser abpumpen könnte.
Der Eukalyptusstrand erweist sich als die Mogelpackung, die mir Stefan prognostiziert hatte. Es gibt eine Urbanisation, eine Feriensiedlung, und einen Campingplatz, der tatsächlich von Eukalyptusbäumchen bewachsen ist. Aber der kilometerweite Strand, an dem die Bäume haushoch bis ans Wasser wachsen, der in meiner Vorstellung existierte, platzt mit unhörbarem Pöff.
Der Strand ist trotzdem großartig. Hunderte Meter breit, zig Kilometer lang. Zwei fahrbare Pisten sind angelegt, auf denen sich monströse Vierradfahrzeuge tummeln. Blechgewordene Männerphantasien mit hochgelegtem Luftansaug zum tief ins Wasser fahren und sie tummeln sich wie junge Hunde, balgen sich, fahren Rennen, ziehen Kreise, malen Spuren im Sand. Das spanische Männlein in Action.
Auf dem Camping quartiere ich mich trotz des hohen Preises von 24 Euro ein. Der Platz steht in vollkommener Kapitalisierung. Es gibt nichts, was nichts kostet. Strom am Platz 4,10 Euro, einmal Handy an der Rezeption laden siebzig Cent, fehlt noch, dass man am Handwaschbeckenföhn Münzen einwerfen muss, oder sich für einen Cent pro Blatt Klopapier aus einem Automaten ziehen kann.
Ich kaufe mich frei. Einfach um mal wieder einen Tag Ruhe vor Hunden und Lagerplatzsuchstress zu haben. Duschen und Waschen wäre auch nicht übel.
Und der Hubschrauberlärm? Es könnten Fischerboote gewesen sein. Nun herrscht jedenfalls Stille.