Ich sollte vorgestern gestartet sein. Den zweiten Februar hatte ich als Wunschtermin für die Fahrradreise nach Gibraltar auserkoren. An Lichtmess. Ich mag das Wort Lichtmess. Lichtmess fühlt sich nach Hoffnung an. Nach wieder aufwärts. Nach ich habe den langen, garstigen Winter überlebt und nun beobachte ich sture Krokusse, wie sie die Erde durchbohren, wie sie zurückkehren, wie wieder Leben in die Bude kommt, wie wieder Regung in diesen Planeten kommt, wie alles, was überlebt hat sich nach und nach aus dem Winterschlaf erhebt, den Raureif abschüttelt, in die Sonne blinzelt. Die religiöse Bedeutung von Lichtmess? Ich kenne sie nicht. In Religionen bin ich nie festgewachsen.
Kraft kehrt zurück. War vielleicht nie weg. Vielleicht ist es mit der Kraft ja so, dass sie nur ab und zu mal schläft, dass sie eigentlich immer da ist, aber nicht aktiv, nicht spürbar. In den scheinbar kraftlosen Phasen, die man durchstehen muss als Mensch, ist sie stets da, aber sie ruht friedlich unter der Decke der Realität, die man sich vorstellen muss, wie ein dickes, unsichtbares Fell, das keinen Blick zulässt, auf das, was es einhüllt.
Das Projekt Gibrantiago hat für mich eine ganz persönliche Note. Vielleicht ist es der Höhepunkt meines Reisens, meines Daseins auf dieser Welt. Eine Art Finale für alle bisherigen Reisen. Immerhin versuche ich seit 1990, diese eigentlich unbedeutende Landmarke im Süden der iberischen Halbinsel, den Felsen von Gibraltar, mit dem Fahrrad zu erreichen. Und habe es bisher nicht geschafft. Dabei ist Gibraltar ja gar nicht der südlichste Punkt Europas. Also warum überhaupt sollte ich diesen Ort als Ziel wählen?
Hier kommt der Glaube ins Spiel. Die selbstgezimmerte Realität, die Vorstellung einer Fiktion … es ist völliger Humbug, auch nur irgendeine Landmarke, dieser Erde als Ziel auszuerkehren. Egal, ob man nun zum Südpol will, zum Nordpol, oder gar zum Mond, all diese Ziele sind nur von Menschen gemachte, in kollektivem Einvernehmen bestimmte Extremziele, die es im Prinzip nicht wert sind, dass man nach ihnen strebt.
Ein fernöstlicher Weiser, habe ich einmal gehört, empfiehlt in einer Anleitung für Staatsführer ohnehin, die Menschen sollen zu Hause bleiben. Sie sollen nicht weggehen. Das Erstrebenswerte im Leben sei, die innere Ruhe zu finden, und die findet man nunmal am Besten daheim in seinem richtigen Leben, dort, wo man seinen Mann steht. Ich weiß nicht, wer das gesagt hat, vermutlich war es das Tao Te Ching. Ich weiß nicht, ob es wahr ist. Ich weiß nicht, ob ich das richtig verstanden habe. Ich weiß nicht, ob das einen Sinn ergibt. Ich weiß so gut wie nichts. Vielleicht ist es nur eine Vorstellung, die in mir gewachsen ist. Vielleicht sind auch Gibraltar, der Nordpol, der Mond und der Mount Everest nur eine Vorstellung. Vielleicht gibt es diese Welt außerhalb meiner Vorstellung gar nicht, oder sie ist nur eine von Milliarden Parallelwelten. Jeder Mensch hat seine eigene Vorstellung von der Welt in sich. Und alle sind sie wahr.
Im Hier und jetzt halten mich familiäre Verpflichtungen (nein, Verpflichtung ist das falsche Wort) von der geplanten Reise ab. Ein Pachtvertrag will endlich besiegelt werden. Morgen haben wir einen Termin vereinbart. Ein Fetzen Papier, der über die langfristige Nutzung von Land entscheidet. Ich bin nicht überzeugt von Fetzen Papier. Ich bin auch nicht überzeugt vom Miteinander auf Erden und noch viel weniger vom Gegeneinander.
Meine schlimmste Qual diesertage ist der Tod. Er kommt mit großen Schritten und frisst sich durch die Familie. Die Generation meiner Eltern ist jetzt in einem Alter, in dem der Tod einfach so und plötzlich kommen kann. Man kann sagen, das ist eben so. Menschen altern. Menschen vergehen. Aber nun, da die Altvorderen in die Achtzig gehen, ist die Bedrohung unübersehbar. Fast alle aus der Generation meiner Eltern sind angezählt durch quälende Erkrankungen, komplizierte Operationen, Krankenhausaufenthalte. Den Anfang machte mein geliebter Onkel im letzten Winter. Drei Monate lang lag er zwischen Leben und Tod im Krankenhaus, ehe er, einer Patientenverfügung sei Dank, auf eigenen Willen endlich gehen durfte. Bei seiner Beerdigung im Frühling fluchte mein anderer geliebter Onkel, hoffentlich haben wir jetzt eine Weile Ruhe vor dem Tod. Noch auf dem Friedhof. Er ging am Stock, aber er strahlte energisch. Was liebte ich ihn für diesen verzweifelt wütenden Ausspruch!
Nun liegt er seit einem Monat im Krankenhaus. Und sein Leiden, angeschlossen an eine Beatmungsmaschine geht mir verdammt nah. Es verfolgt mich bis in die Träume, die diesertage so real scheinen, dass ich fast zu zweifeln beginne, was nun die echte Welt ist: die der Träume, oder diese hier (in der ich vor dem PC sitze und dies schreibe). Mal taucht er in diesen Träumen quicklebendig auf und wir scherzen miteinander, er vor mir stehend, übergroß, aber hey, da stimmt doch was nicht mit seiner Nase, das ist eine Protese. Rosa gepudert aus Plastik mit scharfen Kanten zum Gesicht. Dann merke ich, träumend, dass ich träume, will es beenden, falte die Hände, krümme mich, erinnere mich, wie ich ihn das letzte Mal gesehen habe.
Ich wollte ihn im Krankenhaus besuchen. Er sei auf dem Weg der Besserung, sagte man. Vor dem Klinikportal standen die üblichen Raucher und einer tönte groß vor seiner Familie, die ihn umringte, dass die OP am Kopf doch ein Klacks war, es gehe ihm bestens, er freue sich, dass er bald nach Hause könne. Beim Pförtner fragte ich mich zur Station durch, fand das Zimmer. Es war düster in den Fluren. Nur eine fahle Lampe leuchtete im Zimmer. Der Zimmernachbar saß da und mein Onkel schlief friedlich wie ein Embrio in seinem Krankenbett. Die Haare waren auf der Hälfte des Schädels abrasiert. Ein Pflaster auf der Stirn. Im Dämmerlicht konnte ich nicht viel erkennen. Außer Frieden. Ob ich ihn das letzte Mal lebend sehe, fragte ich mich. Wie geht es ihm, fragte ich den Zimmernachbar, der mich nur anstarrte und nicht antwortete. Die Neurochirurgie hat vielleicht die seltsamsten Patienten aller medizinischen Fachkliniken, dachte ich. Alle stehen unter Cortison oder Morphium. Alle sind betäubt, amputiert, ausgeschabt, gerettet, zusammengeflickt, jaja, manche schaffen es ja auch. Ein Buch von Murakami legte ich auf den Nachttisch. Dann ging ich.
Seither Dämmerschlaf des gelebten Lebens. Es tut mir nicht gut, dieses Sterben. Mein Vater ist angezählt, der Schwiegervater meiner Schwester auch, weitere Onkels und Tanten und wir, die Nachkommen laufen wie Lemminge, vorbestimmt von natürlichen Abläufen auf eine Klippe zu namens Zipperlein.
Torschlusspanik. Vielleicht ist es das, was mich antreibt? Ich will mein Schreibgebäude, das ich vor über zwanzig Jahren begonnen habe endlich fertigstellen. Schreiben unterwegs und über Unterwegs, das war mein Ziel, als ich meine ersten Zeilen im Februar 1990 in ein Notizbuch schrieb. Ich war ein bisschen gestrauchelt im Karriereleben, durch Zivildienst aus dem Studium gekugelt und mit seltsamen Typen zusammengeraten, die mir die Lektüre von Jack Kerouac, Nin, Miller, Celine, Hamsun, Shalev und so weiter ans Herz legten. Jack Kerouac hatte es mir besonders angetan. Weil er nur zwei Jahre nach meiner Geburt starb, phantasierte ich manchmal, dass seine Seele in diesen zwei Jahren zu mir gewandert sei. Ich weiß, das ist Quatsch. Aber ich mag den Gedanken. Und Kerouac hätte das bestimmt auch spannend gefunden. Seelenwanderung zu Lebzeiten, weiß man da schon mehr darüber?
Schreiber werden. Oder Künstler. Oder einfach nur irgendwas mit nicht dazugehören. Ich glaube, das war das Programm, dessen Befehlsschlaufen ich durchlief. Nach zwanzig Monaten Zivildienst und all den Kunst- und Schreibflausen im Kopf war jedenfalls nicht gut Anknüpfen an ein Leben als Ingenieur. Der Cremonaplan meiner Existenz geriet zu einer unzusammenhängenden, verfahrenen Skizze, die eher ein Gemälde von Miro hätte sein können, als ein konstruktives Etwas, das alle Kräfte im Spiel grafisch darstellte.