Das Liveschreibprojekt kommt an seine Grenze. Nicht, dass ich mich dazu zwingen möchte, jeden Tag akribisch etwas zu notieren im Blog, das wäre ein großer Fehler. Es würde die Lesenden langweilen. Das Problem liegt in den Unterschieden zwischen Blog und Buch. Ein Blog verzeiht Redundanz, es braucht sogar bis zu einem gewissen Grad die Wiederholung, die immer wiedere Erwähnung der Basics. Das Buch hingegen muss von all dem bereinigt werden (wie ich es mit der überarbeiteten Version von Ans Kap getan habe. Somit kann ich mir die Idee abschminken, nach der Reise, zu Hause vor einem fertigen Buch zu sitzen und nur noch die Tippfehler zu eliminieren. Im Gegenzug gibt es Elemente, die so kompliziert sind (und womöglich noch gar nicht fertig erlebt im Liveschreibleben), dass es unmöglich ist, sie direkt zu notieren. Schon vor ein zwei Wochen habe ich einige Geschichten, die zu kompliziert oder unpassend waren, in das schwarze Notizbuch – handschriftlich, gut, alt, klassisch – skizziert. Die letzten Tage waren zum einen etwas schnellere Tage, zu anderen und schwierigeren Teil sind die Geschichten dazu nicht so einfach zu schreiben, weshalb ich beschlossen habe, sie erst einmal auszuklammern und diesen Artikel auf privat ins Blog zu laden für eine spätere Überarbeitung.
21. und 22. März (Tag 25 und 26) Das Meer, Küstenradweg, der verschwindet und wieder kommt, und zwar mit erstaunlicher Güte, zum Glück! Welcome to the Adventurezone. Überlegungen zu leerstehenden Ferienparks, Flüchtlingen, Europa, Dekadenz, Egoismus, Gedankenlosigkeit. Zustandsbeschreibung eines Kontinents, der die Welt leersaugt am Beispiel eines kleinen Küstenstreifens, an dem sich alljährlich die hart arbeitenden, über ihre eigenen Wohlbefindlickeitsgrenzen gehenden, oft frustriert gelangweilt, an der eigenen Sinnsuche gehinderten Menschen des Landes treffen.
Der Artikel greift einem Gespräch mit Hagen und Christine vor (Tag 27), in dem es um Hagens Reise zum Autosalon geht, um Christines Testfahrten für Conti, um den Europapark in Rust, in dem Hagen an einer Webhosterkonferenz teilnahm, um verschiedenfarbige Bremsen an teuren Autos (wie Karategürtel), Knopfanzahl an Anzügen, all die Probleme, mit denen sich der im alltäglichen Überlebenskampf des westlich zivilisierten Businesslebens stehende Mensch konfrontiert sieht, hinzu kommen vernachlässigte Kinder, die bespaßt werden wollen, die man sich in den Ferien vom Hals halten möchte (hier einen Ringschluss zum Entstehen der Ferienparks mit Bespaßungsmaschinerie einfügen und eine nassforsche Prognose, wie der Mensch als Gesellschaftswesen mehr und mehr dem Unglück entgegenwächst, weil er alle Löcher, die sich vor ihm und seinem ramponierten Seelenleben auftun verzweifelt mit noch mehr Spaß und Ablenkung füllt).
Zusätzlicher Exkurs in eine fiktive zukünftige Welt, in der es keine Menschen mehr gibt, und das einzige, was übrig geblieben ist, ist dieser Küstenstreifen von ein, zwei Radreisetagen Länge mit leerstehenden, verbarrikadierten Hotels, Zäunen und am Horizont ragt das Monsteruniversalfliehkraftspielgerät – Außerirdische würden vielleicht vermuten, damit haben sie sich letztlich durch ein Wurmloch in ein anderes Universum katapultiert …
Hier der ursprüngliche Artikelentwurf.
Ein Rastamann auf dem Fahrradlenker! Tse. Nein, nicht auf meinem, auf seinem eigenen Fahrradlenker, sitzt der Kerl und kurbelt fröhlich rückwärts, immer mal wieder über die Schulter blickend, über die Sonnenbrille schielend, zielsicher, in Schlangenlinien zwischen all den Leuten hindurch, die die Frühlingsfrische auf dem Radweg zwischen Meer und Montpellier genießen. Spaziergänger, Radfahrer, Skater, Paare mit Kinderwagen, Birdwatcher. Wie extra einbestellt staksen rosarote Flamingos in den Seen und Tümpeln, durch die sich der Radweg schlängelt und ich trete ordentlich rein, bis ich bei einer Pferderanch erst bemerke, dass ich die Abzweigung verpasst habe und drauf und dran bin, nach Montpellier zu radeln. Meine Strecke führt da drüben, auf der anderen Seite des Kanals. Schon vor drei Kilometern hätte ich über die Brücke gemusst. Ein Kaffeeautomat, Sitzbänke, andere Touristen, ich frage nach Wechselgeld für einen Fünfeuroschein und man schenkt mir die Münzen für einen Kaffee. Mal gewinnt man, mal verliert man, dröhnt es im Jahrmarktsjargon schneidisch in meinem Kopf. Erst einmal Luft holen, Kaffee trinken, ausruhen. Die Sonne scheint. Auf dem Pferdehof werkelt jemand. Das Pärchen am Nebentisch erklärt mir eine Brücke ganz in der Nähe, puuuh, aber die Brücke ist so eng und so verbarrikadiert (damit auch ja kein Moped durch kann, das verstehe ich) wie die Radwege in Kent. Ich muss die Packtaschen abnehmen und das Radel über die Barriere wuchten. Auch andere Radler haben ihre Schwierigkeiten, selbst ohne Gepäck.
Morgens noch sah es so aus, als seien die guten Radwege nun endgültig passé. Über Strandpromenaden holperte ich auf Betonplatten entlang des Meers westlich von Grau-du-Roi, zwar auf einer beschilderten Route, doch wohin sie führt, und ob sie offizieller Teil des Mittelmeerradwegs ist, stand nicht auf den Schildern. Mittels GPS und dem Track, den ich gespeichert hatte, gelang aber die Navigation ganz gut. Kaum hatte ich auf Twitter das Ende aller Radwege in Südfrankreich verkündet, gab es wieder Pisten, sogar mit aufgemaltem Mittelstreifen, ganz wie auf richtigen Straßen. Bis Sète kann man also ganz auf Radstrecken fahren, die meist entlang normaler Straßen führen.
Im Hochsommer dürfte es allerdings schwierig sein, durchzukommen, denn die Gegend ist voller Hotels und Campingplätze, Restaurants und Schwimmbäder, Spielplätze, Casinos, Ferienappartements und es gibt etliche Bootsparkplätze, in denen die Motorboote, teils auf dreistöckigen regalähnlichen Gebilden überwintern. Der Sommer muss hier ein Tumult ohne Gleichen sein.
Vergnügungsparks, in denen fleißige Arbeiter alles, an dem der Lack abblättert, wieder auf Hochglanz bringen, mit Sprühpistolen frischen Lack aufbringen. Jenseits von Sète und Agde liegt ein Spaßbad am anderen, Rutschbahnen, eine Achterbahn in einem Europapark, der mit einem frechen übergroßen Clownsgesicht am Hauptgebäude Kinder anlockt und gegenüber eine düstere Bude, ebenfalls mit Clownsgesicht, das aber eher wie der Joker in Batman aussieht, mit bösen Augen und einer Pistole im Anschlag. Guter Vergnügungspark, böser Vergnügungspark. Piercen kann man sich auch lassen.
Frankreichs Abenteuerzone.