Jenseits von Puçol nähert sich im Schrittempo eine Kehrmaschine auf dem knallrot angemalten Radweg. Hinter ein paar Bäumen eines Picknickplatzes jault ein Dieselmotor und man hört die Schippen von Bauarbeitern klappern, die – offenbar – dem Minibagger zur Seite stehen und die Feinarbeit leisten. Querab etwas weiter weg spielt das Rückfahrwarngepiepse einer anderen Baumaschine auf einer anderen Baustelle mit in dem Orchester. Sozusagen die erste Geige der Bauarbeit.
Ich habe es mir auf einer Picknickbank gemütlich gemacht und lasse den Radweg an mir vorbei flanieren. Männer und Frauen, Radler und Jogger, sogar Inlineskater sind auf dem fein geteerten Etwas unterwegs. Der Wind treibt müde Plastiktüten dahin. Meine Solarzelle pumpt Energie in das iPhone und in den Pufferakku.
Sie alle rennen, um gesund zu bleiben. Gesund und fit und dem Ideal des geschäftigen Menschen zu gehorchen, vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wir leben in einer rennenden Welt, denkt mein Hirn und bastelt am Bild einer sich selbst treibenden Geschäftigkeits- und Wertschöpfungsmaschine. Nur wer sich bewegt, wer fit und gesund ist, der taugt etwas in diesem eigenartigen Perpetuum Mobilé und nur wer schneller wird als die anderen und mithält mit dem Schnellerwerden der anderen, die wiederum mithalten müssen mit dem eigenen Schnellerwerden … hach, welch eigenartige Kettenreaktion, welch teuflisch fatale Rückkopplung, ich sitze still, schäle eine Orange, esse sie. Ein pummeliger Mann radelt auf den Rastplatz. Am Fahrrad hat er ein Radio, scheinbar fest eingebaut, genau wie bei Autos. Jemand muss ihm klar gemacht haben, dass dies ein guter Kauf ist, dass es genau das ist, was er braucht, ein Fahrrad mit Radio und USB, damit er immer seinen Lieblingssender hören kann, wenn er trainiert, vielleicht arbeitet er in einem Büro, vielleicht hatte er kürzlich einen Herzinfarkt und ist jetzt rekonvaleszent, vielleicht ist er schon Rentner?
Aus dem Schatten eines Baums kommt ein anderer Mann daher. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie er am Picknickplatz angefahren ist. Er drückt mir einen Stadtplan von Valencia in die Hand. Das ist nur noch 15 Kilometer entfernt, sagt er und dann kramt er aus seinen Packtaschen weiteres Radlermaterial. Zwei Radlermagazine auf spanisch schenkt er mir und die Visitenkarte eines Radlercafés, da könne ich zum Beispiel das schwer bepackte Europennerradel abstellen und einen Stadtspaziergang machen. Die würden dann auf mein Rad aufpassen. Die Stadt sei voller Schlawiner, armer Leute und es sei gefährlich, das Gepäck unbewacht zu lassen und dann drückt er mir noch eine weitere Visitenkarte in die Hand von einem Radlergeschäft, in dem der beste Monteur der Stadt arbeitet. Dort könne ich auch so eine Presslufthupe kaufen, wie er sie montiert hat. Er demonstriert mir das Warngerät, fast so laut wie eine Autohupe. Sagte er 25 Dezibel oder 250? Ich weiß es nicht mehr. Das Ding ist mit einem Druckschlauch an einer Flasche befestigt, die in den Trinkflaschenhalter passt. Mit einer normalen Luftpumpe und Autoventil pumpt man es auf und hat dann genug Luft, um fünf, zehn, fünfzehnmal zu hupen. Je nachdem wie lange und intensiv.
Manolo, so heißt mein valencianischer Leitengel, ist schon 81 Jahre alt und er fährt jeden Tag die Strecke von Valencia nach Sagunto und wieder zurück. Fünfzig Kilometer. Ich hätte ihn auf höchstens siebzig geschätzt. Radfahren hält jung.
Die Via Verde führt tatsächlich bis hinein in die Großstadt, obschon die Strecke entlang der Hauptstraße und durch zig Kreisverkehre nicht gerade schön ist, bin ich dankbar, nicht mit den Dieselrußkarossen auf einer Piste fahren zu müssen. Auch die Radwegführung in Valencia gelingt – GPS und Track sei Dank – bestens. Plötzlich bin ich in einer länglichen Oase, mitten in der Stadt. Hatte nicht Manolo erzählt, der Radladen sei direkt am Fluss, aber den Fluss gebe es nicht mehr? Ich erinnere mich, gelesen zu haben, dass der Fluss, der einst durch Valencia floss nach einem katastrophalen Hochwasser kurzerhand umgeleitet wurde und das stillgelegte Flussbett wurde zum Park umgewidmet. So folge ich ein, zwei Kilometer den Radwegen in dem vielleicht hundert Meter breiten Gelände, hindurch unter uralten Brücken, vorbei an Spielplätzen und Skatearenen bis hin zu einem Museumsgelände, auf dem futuristische Gebäude stehen, die aussehen wie das Maul eines überdimensionalen Fischs, Springbrunnen und hunderte Meter lange Wasserbecken, Touristen und Studenten. Die Stadt ist jung, sie lebt, sie pulsiert.
Was habe ich wohl mit dem gestrigen Bericht über die Nutten und Schneckensammler für ein verzerrtes Spanien-/Europabild gezeichnet, mich selbst als apokalyptischen Radler bezichtigt, der den Niedergang eines ganzen Kontinents dokumentiert, aber das stimmt doch gar nicht. Vielleicht ist es ja mit uns Menschen wie im Wald? Wir wachsen auf dem Nährboden verrottender Vorangegangener. Der ersten Generation der Tod, der zweiten die Not, der dritten das Brot und das immer wieder im steten Rund der Generationen? Wohl dem, der in einer Brotschleife geboren wurde, so wie ich, wie wir alle; und das ist aber auch nur die halbe Wahrheit, denn ich sitze obendrein noch auf der richtigen Seite des Mittelmeers, wird mir gerade klar, sitze frühmorgens am Strand in der Nähe von Gandia. Die Sonne powert ordentlich drauflos und die Solarzelle pumpt den Akku voll. Menschen flanieren auf der Strandpromenade und auch die ewig wetzenden Jogger, Hundegassigängerinnen, das Land ist reich.
Eine Front aus Hochhäusern voller Appartements bleckt Richtung Meer, eins von ihnen sieht fast aus, wie ein Inkatempel, wie eine terrassenartige Pyramide. Müllcontainertransporter, emsige Bauarbeiter, ein ganz anderes Bild, als der deprimierende Orangenstrich jenseits von Castellón, als die verhärmten Schneckensammler in der niedergegangenen Gewerbewüste nördlich von Valencia, als der keuchende Junge, der einen riesigen Wagen voller Altpapier entlang der Autobahn schob – ob er das hier im Straßengraben sammelt, habe ich mich gefragt, ob das sein Beruf ist, ob er davon leben kann oder muss?
Vorhin radelte ich kilometerweit durch dicht besiedeltes Gebiet, das heißt, alle paarhundert Meter am Wegrand steht eine kleine Finca umgeben von Orangenhainen. Fast jedes Grundstück ist eingezäunt oder ummauert. Überall Tore und Warnschilder, dass das Gelände alarmüberwacht ist, Securityservice hier, Securityservice dort und die Hunde, die allseits in den Grundstücken vermutlich nicht gerade ein Sonnendasein führen, blaffen dich an, zerren an den Ketten, blecken die Zähne. Angst, schießt es mir in den Sinn, das ist die Angst der Mittelschicht vor dem Abstieg, die Angst davor, so zu werden wie die Schneckensammler und die Nutten und der Papiersammler jenseits von Valencia, oder noch schlimmer, so zu enden wie das Häufchen Elend vor dem Supermarkt in Puçol, speckig, dreckig, blau geschlagenes Auge, aufgerissene Lippe, demoralisierter Blick, nur er, ein paar Kleider und eine schmutzige Plastikschale für das Geld, ein Bild, das mich zur Vollbremsung nötigte und ich ihm etwas in den Becher warf, sein Blick sich für einen winzigen Moment erhellte, mir klar wurde, du wirst ihn nicht mit allen Mitteln der Welt retten können, genausowenig wie die Nutten und die Schneckensammler und den Papierboy und auch die schweißgebadeten Jogger, die doch eigentlich nur um ihr Leben joggen, um fit zu bleiben, um ihren Job, den sie vermutlich nicht lieben, behalten zu dürfen, der sie nährt, der sie Mittelschicht macht, auch die wird niemand retten. Hamsterrad, schreis laut in den Himmel, niemand wird es hören und wir alle leben darin.
Die einfache Rückkopplungsidee des Herrn Irgendlink ward geboren kilometerweit durch eine Schlucht aus Orangenhainen und vermauerter eingezäunter Fincas radelnd und über den Zusammenhang zwischen Alarmanlagen, Wachhunden und der Angst vorm Abstieg nachdenkend. Mit der einzig plausiblen Antwort, dass was in dieser Gesellschaft stattfindet ein Wettrüsten des Mittelstands gegen den Abstieg ist. Je mehr abgestürzte, bedrohlich wirkende Ex-Mittelständler es gibt, die bitterarm im Dreck vegetieren, desto größer und auch begründeter die Angst vor Dieb und Mord und desto mehr kauft man Alarmanlagen und Wachhunde und schuftet dafür im ungeliebten Job und hält sich seelisch moralisch fit, damit man diesen Job auch behalten darf.
Welch bipolare Welt und du, knabenmorgenkünstchenträumender Typ sitzt auf deinem Bänklein und beobachtest das alles.
Schon möglich, dass du dich irrst.