Morgenkühle Betonbank, Sonne kämpft sich langsam durch. Vor mir rauscht der Fluss, querab im Süden tutet etwas langanhaltend wie eine Bahn vielleicht, das Geräusch mischt sich mit Wind und Straße und ein Kuckuck, kann das sein? Die Klapperstörche hinter mir im Baukran sind jedenfalls keine Einbildung. Vier, fünf Nester garnieren das alte, stählerne Fachwerk und unter dem Kran ruht bis auf alle Ewigkeit eine Bauruine, wie sie für Spanien so typisch sind, sagte man mir. Überbleibsel der Immobilienblase, die einst platzte. Als habe man alles stehen und liegen lassen, findet man diese Gerippe aus Beton und halb ausgemauerten Wänden, manchmal auch nur Treppenhäuser mit Flachdach und Säulen in fast jeder Stadt. In den Dörfern, die meist auf einem Hügel liegen, sind fast alle neueren Gebäude, also die hässlichen, in denen sowieso nie gutes Leben hätte stattfinden können, finde ich, ‘En Venda’, zu verkaufen.
Balaguer liegt an einem Fluss. Der rauscht wohl Richtung Lleida, noch etwa 25 Kilometer entfernt. Es gibt ein Theater in der Stadt und jenseits meines Schreibplatzes zieht sich eine Reihe Wohnblocks dahin, sechsstöckige Etwasse mit Autogaragen untendrunter.
Die letzten Tage waren ein bisschen streng. Zunächst die Pyrenäensüdquerung, die aus drei Pässen über 1000 Meter, der höchste gar fast 1500 Meter hoch, bestand, etwa zweihundert Kilometer von Olot über Ripoll, Berga bis zu dem kleinen Dorf Cambrils, von wo mich eine ‘Carretera Muntanya’, eine Gebirgsstraße über einen unerwarteten vierten etwa 1200 Meter hohen Passe endlich in flachere Gefilde entließ.
Obschon flach, das gibt es vielleicht gar nicht in Spanien. Ich habe einmal gehört, es sei das europäische Land mit den meisten Bergen über 2000 Metern Höhe. Weiß nicht, ob das stimmt. Dennoch, ab einem Weiler namens Bassella, der eigentlich nur aus einer Tankstelle und einem Verkehrsmuseum und einem riesigen Parkplatz besteht, ist man raus aus den Bergen.
Als wolle das Schicksal mit mir Pingpong spielen, beschert es mir mit Erreichen der flacheren Gefilde eine erste massive Panne. Das hintere Schaltwerk verhakte sich in den Speichen und ich kann von Glück reden, dass ich es rechtzeitig gemerkt habe, zwei Tage ist das jetzt her. Ein Herz-Hosentaschengefühl, denn als ich den Schaltkäfig geradebiegen will, reißt das Schaltauge, also die Befestigung am Rahmen ab. Das Radel ist mit einem Schlag unfahrbar, da die Schaltung ja auch als Kettenspanner fungiert. Lose hängt das Ding unter den Packtaschen neben dem Hinterrad.
Schnitt.
Es passierte im letzten Drittel des fast sieben Kilometer langen Nordkap-Tunnels. Acht neun Prozent steil fällt die Verbindung zwischen Festland und Nordkapinsel zunächst etwa dreieinhalb Kilometer weit und über 200 Meter tief unter das Meer, um sodann ebenso steil und ebenso lang wieder nach oben zu führen. Man kann den Tunnel eigentlich prima radeln. Es herrscht nicht so viel Verkehr außerhalb der Hauptsaison. Abwärts ist man sowieso fast so schnell, wie Autos und aufwärts kann man auf einem etwa achtzig Zentimeter breiten Gehweg entlang der glitschigen Felswand nach oben schieben oder kurbeln. Alle zwanzig Meter ist die Distanz, die man schon zurückgelegt hat an die Wand gemalt. Der Tunnel ist beleuchtet. Die Luft okay, es gibt eine Notrufsäule und eine Nothaltebucht ganz unten. Er war also bester Dinge, als er mit seinem Rennrad und dem Anhänger hinaufkurbelte und das Nordkap in greifbarer Nähe wähnte. Plötzlich trat er ins Leere. Die Kette klatschte auf den Teer und er konnte von Glück reden, dass er sich bei dem ersten ruckartigen Leertritt nicht den Fuß verstaucht hatte. Etwa einen Kilometer noch bis hinauf ans Ende der Röhre, sagten die Zahlen an der Tunnelwand. Er schob und schob und in seinem Kopf machte sich ein gewisser Frust breit, denn bis Honningsvåg, der Stadt, in der es hoffentlich einen Radladen hätte, waren es noch gut zwanzig Kilometer, über Brücken, einen weiteren Tunnel, im Wind und Regen. Es würde fünf, sechs Stunden dauern. Oben angekommen beäugte er den Schaden und als er aufblickte, stoppte ein Norweger sein Auto, mitsamt dem Anhänger voller Kajaks, bot ihm Hilfe, die weit über das normale Maß an Hilfsbereitschaft hinaus ging, denn er lud die Kajaks bei einem Freund in der Nähe ab, kehrte zurück, packte das Gespann auf den Anhänger und chauffierte ihn bis nach Honningsvåg. Honningsvåg ist nach 17 Uhr eine trostlose Stadt. Still liegt der Hafen. Alle Geschäfte haben geschlossen, bis auf den großen Supermarkt am Stadtrand, in dem er aber keine Hilfe für sein Fahrrad erhalten würde. Bis zum nächsten Campingplatz würde er weitere sieben Kilometer schieben müssen, einsam irrte er durch den Hafen und hatte die Hoffnung, dass ihm jemand helfen könnte längst aufgegeben, bis er mich traf.
Als Radler habe ich einen Blick für in der Patsche sitzende Menschen. Es kommt ja hin und wieder vor, dass man selbst in der Patsche sitzt und daher weiß man, wie jemand aussieht, der in der Patsche sitzt, ach was, man weiß ganz genau, wie sich in der Patsche sitzen anfühlt. Nämlich beschissen.
Deshalb drehte ich noch einmal um, als ich den Jungen fahrradschiebend in einer Seitengasse sah, fragte, ob alles okay ist. Nichts war okay. Er suche einen Fahrradladen, sagte er. Es ist alles zu hier, habs selbst gesehen, war ja eben kreuz und quer hier unterwegs zwecks Sightseeinig. Vor der Touristinformation, wo die Tunichtgute der Stadt im offenen WLAN surften, schaute ich mir sein Problem näher an und zauberte den Kettentrenner aus meiner Packtasche, den ich über 4000 Kilometer von Deutschland ans Nordkap und bis hierher geschleppt hatte, ohne ihn selbst zu brauchen. Schnell war die Kette um zwei marode Glieder gekürzt und neu zusammengenietet. Der Junge – nun da ich dies schreibe, hier in Ballaguer, fällt mir sein Name nicht mehr ein – war der glücklichste Mensch der Welt und ich sozusagen so eine Art Engel.
Schnitt.
Ich wusste, dass das Problem mit der abgerissenen Schaltung massiv ist und nach einigem hin- und hertwittern mit @RecumbentTravel, sank jede Hoffnung, in kurzer Zeit das Problem zu lösen, denn die Diagnose ‘kaputtes Schaltauge’ (das ist ein winziges Teil aus Aluminium) ist eine der härtesten, die es gibt auf Radreisen. Profireisende nehmen deshalb immer ein Ersatzschaltauge mit, habe ich mir sagen lassen. Es gibt über 2500 verschiedene Schaltaugen (there are Nine Million Schaltauge in Bejing, dudelte mir höhnisch ein Lied).
Es ist unwahrscheinlich, solch ein Spezialteil hier in der Gegend zu kriegen. Immerhin gelang es mir, durch Kettenkürzen – ja, der Kettentrenner leistet noch immer gute Dienst – das Fahrrad in ein Eingangrad zu verwandeln, so dass ich auf ebener Strecke ohne Gegenwind gut radeln könnte.
In der Tankstelle in Bassella half mir die Tankwartin weiter mit dem Tipp, ins sieben Kilometer entfernte Oliana zu radeln, dort gebe es eine Autowerkstatt, vielleicht könnten die helfen.
Also schuftete ich mich gegen Einbruch der Dunkelheit nach Oliana, wo ich am Fluss das Zelt aufbaute. Ein wunderbarer Lagerplatz und ich schlief gut, aber als ich mitten in der Nacht erwachte, kam mir die Misere in den Sinn. Wie schön es doch wäre, wenn ich am Morgen einfach weiterradeln könnte. Hätte, hätte Fahrradkette, und so recherchierte ich noch in der Nacht das Grauen: Forenberichte, in denen von mehrwöchigen Wartezeiten die Rede war.
Einzige Möglichkeit schien mir, das Teil im Internet zu bestellen (in der Hoffnung, dass mein Schaltaugentyp auf Lager ist) und mich auf eine Woche Wartezeit einzustellen, eine Adresse in Oliana müsste ich angeben, und dann das Glück haben, dass der Einbau noch klappt. Hier in einen Radladen zu spazieren und einfach so das richtige Schaltauge zu kaufen, war utopisch.
Die nächsten Städte, in denen es überhaupt Fahrradhändler gibt, Andorra la Vella und Lleida, sind jedenfalls unerreichbar weit.
Ein Engel muss her, dachte ich, als ich nach der Recherche gegen vier Uhr nachts ein zweites Mal einschlief.