Herrn Irgendlinks kindliche Weltausgleichsformel #Gibrantiago

Gerade habe ich in einem Intermarché die Vorräte aufgefrischt, Butter, Trinkjoghurt, Kleinigkeiten für vier, fünf Euro, bin weitergeradelt zur Bäckerei hinter der Rhônebrücke rechts, hatte man mir erklärt, habe ein Baguette gekauft und ein unendlich fettiges, leckeres, pizzaähnliches Ding, überquere nun die Hauptkreuzung im Dorf, vorbei an einem ziemlich verdreckten Kerl mit Fahrrad in Lumpen und Plastiktüten, unterwegs rhôneaufwärts. Kurzer Gruß über die Straße hinweg. Dann sind wir beide in unsere Richtungen unterwegs. Begegnungen, wie lange dauern sie? Was sagen kurze Augenblicke des Sichtkontakts über uns aus?

Schon sitze ich abseits im Dorf auf einer Mauer, nicht sehr gemütlich direkt an der Straße, aber ich musste unbedingt stoppen, um die Pizza zu essen, die man mir in der Boulangerie gewärmt hatte, solange sie noch warm ist.

Der Bettler geht mir nicht aus dem Kopf. Ich frage mich, was das für ein Leben ist, hinausgekugelt aus dem gesellschaftlichen Gefüge. Keine Freunde, die einen mal für ein zwei Nächte beherbergen. Kein Geld, minderwertiges Material, aus Kleidersspenden zusammengestoppeltes Outfit. Kein Ort, an den man zurückkehren könnte in die wohlige Mitte der Gesellschaft. Vom Winter bedroht, vom Frühling verhöhnt, vom Sommer und Herbst ver-was-auch-immert. Verdammt, auf Ewigkeit alleine, schmutzig, endend durchs Land zu ziehen ohne Ziel. Auf der Flucht und noch nicht einmal zu wissen wovor.

Die aus der Gesellschaft ausgekugelten. Wie nimmerreparierbare Hüftgelenke.

Ich bin ja so verwöhnt, dämmert es mir. Zugegeben, ich bin nicht reich, und wenn man die Armutsgrenze aus dem kürzlich veröffentlichten alljährlichen Armutsbericht als Bemessungsgrundlage nehmen würde, könnte man aus mir vielleicht zwei Arme machen, rein materiell gesehen. Aus dem Mann, der mir eben begegnete vielleicht fünf oder zehn? (Anzahl der Armen, die du bist: Durchnittseinkommen durch dein Jahreseinkommen). Ich weiß es nicht.

Es geht vielleicht nicht einmal so sehr um Materielles, was die Armut betrifft, die Flucht und all die modernen Übel, sondern um Perspektive.

Ich gondele mit geringsten Mitteln durch Europa, habe ein konkretes Ziel vor Augen und die selbst erdachte Mission, alle zehn Kilometer zu fotografieren, zu bloggen, zu twittern, Kunst zu schaffen und das Leben auf der Straße auf meiner kleinen, virtuellen Bühne hochleben zu lassen. Das alles mit dem Hintergrund, jederzeit aufhören zu können, jederzeit in den Zug oder gar den Flieger steigen zu können und daheim – zwar keine Luxuswohnung, aber immerhin – ein solides Dach über dem Kopf vorzufinden. Freunde zu haben, mich fallenlassen zu können, die Wunden zu lecken und zu heilen.

All das hat mein mir eben begegneter Fremder vielleicht nicht. Und wenn ich dem kurzen Blick, weniger als eine Sekunde im Vorbeizischen in seine Augen trauen kann, meinem Gefühl, dann hat er definitiv nichts und niemanden, der oder das ihm auch nur irgend Halt gibt in dieser Welt.

Schon fabuliere ich, auf dem Mäuerchen sitzend, Pizza schmatzend an meiner kindlichen Weltausgleichsformel, die ich mir irgendwann einmal ausgedacht habe. Eine Formel, die Teilchenphysik mit Sozialwissenschaft mischt: immer wenn sich zwei Menschen begegnen (wie Teilchen, die aufeinandertreffen in einem Teilchenbeschleuniger), müsste die Regel gelten, sie legen all ihren Besitz zusammen und teilen durch zwei und gehen dann weiter, so lange, bis sich alle Menschen dieser Erde begegnet sind und logischerweise alle gleichviel vom großen Weltenkuchen abbekommen haben. Im Fall hätte ich die etwa 150 Euro in meinem Geldbeutel mit den vielleicht dreißig Euro aus dem Geldbeutel des Bettlers zusammenlegen müssen und am Ende wären er und ich mit 90 Euro in unsere jeweiligen Richtungen weitergezogen. Kalte Teilchen vom großen Weltenbeschleuniger zur Kollision gebracht.

Ich gebe zu, die Idee ist kindlich, naiv, aber man muss manche Ideen trotzdem denken, wenigstens denken.

Niemand würde das tun, der genug hat, einem x-beliebigen Fremden gegenüber den Geldbeutelinhalt offenbaren und teilen. Niemand. Auch ich nicht.

Das Wohlfühlradeln hat ein vorläufiges Ende ziemlich genau mit Eintreten ins Departement Ain. War die Via Rhôna am Vortag zwischen Seyssel und ungefähr Morestel noch als eigene, kleine Miniautobahn durch die Flussauen ausgebaut, muss ich nun auf zwar ruhige Landstraßen ausweichen. Ab der Kirchenruine Saint Martin de Vernas führt der Radweg aber auf feierabendlich hektischer Landstraße. Viele LKWs. Einzig beruhigend ist, dass ich an dem schönen Vorfrühlingstag nicht alleine bin. Hunderte Rennradler, teils in Gruppen von zwanzig Fahrern, radeln auch in der Verkehrshektik. Rücksichtsvolle Überholmanöver. Ich orientiere mich an dem GPS-Track, der in Schlangenlinien versucht, die Hauptstraße zu umgehen und dabei auf kiesige Holperpfade ausweicht, auf denen man teilweise nur Schritttempo radeln kann mit all dem Gepäck. Das kurze Stück nach Villette d’Anthon, nur etwa zehn, fünfzehn Kilometer zieht sich. Von Norden nähern sich Wolken. Die Einflugschneise von Lyon Saint-Exupéry grüßt mit Fluglärm. Deutlich spürt man den Einfluss der Großstadt. Die Wohngebiete sind videoüberwacht. Überall Verbotsschilder, Zäune, Hunde, Securityfirmenschilder, Wachsameaugensymbole. Je mehr Stadt, desto größer Armreich.

Die Schere.

Schon in Baume-les-Dames nördlich des Juras habe ich die Schere am eigenen Leib zu spüren bekommen, als ich auf einem Campingplatz übernachten wollte, der aber nur Wohnmobile aufnimmt. Keine Europennerzelte. Wenn du ein Hunderttausend-Euro fahrbares Haus hast, bist du dort gerne gesehen, aber mit Zelt und Fahrrad, schickt man dich einfach fort (Claire, die Platzwartin, hatte mir liebenswerterweise ein Gästezimmer ertelefoniert, es war ohnehin grenzwertig kalt in jener Nacht).

Dennoch, im Laufe meiner Lebensjahre kann ich das Aufklappen der Schere am eigenen Leib spüren. Kam man früher für zwanzig, dreißig Euro in einer Pension unter, sind es heute fünfzig bis achtzig. Wurde man früher mit Zelt und Fahrrad für acht Euro auf einem Campingplatz aufgenommen, darf man heute froh sein, dass überhaupt der Menschentyp Europenner, Mensch mit Zelt, noch legal existiert. Wir verillegalen uns gegenseitig, oder das System tut es für uns.

In Villette steuere ich in feierabendlicher Hektik den Campingplatz an, von dem ich mir schon vor der Reise Daten aus dem Internet gesucht hatte, ob er offen ist etwa. Ja, ganzjährig. An der Rezeption begrüßt man mich freundlich ratlos und fleddert erst einmal den Computer, denn der Typ einzelreisender Zeltradler für nur eine Nacht, existiert eigentlich nicht im System. 

Mindestaufenthalt ist zwei Nächte und das Hauptgeschäft des Campinparks ist die Vermietung von Hütten und, wie ich später sehe, unheimlich phantasievollen Baumhäusern. Dennoch gibt es eine Zeltwiese neben Tennisplätzen, achja, und gleich gegenüber ist eine Ferienranch, hoch umzäunt, aus der ich just in diesem Moment, in dem ich dies schreibe, eine Art militärische Vorbeterei höre, sprich, einer brüllt etwas vor und eine ganze Schar brüllt im Chor ihm nach. In meiner Vorstellung machen da Uniformierte irgendwas für oder gegen vermeintlichen Weltfrieden, aber hey, das hier sind Ferienanlagen, ein Golfplatz mit was weiß ich wievielen Löchern zieht sich hinüber nach Lyon, das kann nur eine Animation sein.

Pierre, der neue Chef des Platzes, setzt alle Hebel in Bewegung, um mich zu legalisieren, sucht den billigsten Tarif aus dem Computer, berechnet die Kurtaxe, insgesamt kommen wir auf sechzehn Euro und vier Cent für eine Nacht (was meine insgeheime Schmerzgrenze von 15 Euro um 1,04 Euro überschreitet, aber hey, schlägt Pierre vor, ich darf zum gleichen Preis auch zwei Nächte hierbleiben. Er hat das Herz am rechten Fleck. Mit einem akkubetriebenen Golfcaddy flankiert er mich zur Zeltwiese, besorgt mir ein Verlängerungskabel, damit ich die Akkus aufladen kann, drückt mir schließlich noch eine Art Geschenkbox, einen bunt bedruckten Kubus aus Pappe, in die Hand, in dem sich ein Müllsack und eine Rolle Klopapier und eine Schachtel Streichhölzer befinden. Unter den phantastischen Baumhäusern steht nun mein Zelt.

Außer Einflugschneise ist der Platz sehr idyllisch. Ein schöner Familiencamping vor den Toren Lyons.

Meine Idee, heute zu ruhen und mit dem Zug nach Lyon zu fahren, muss ich wohl aufgeben. Es gibt keinen Bahnhof in der Nähe. Ich wäre auf Mitfahrgelegenheiten der wenigen Campinggäste angewiesen.

Ich werde nun frühstücken und schaffe es hoffentlich noch vor dem angesagten Regen um zehn Uhr, das Zelt trocken abzubauen.

Nachtrag: nebenan wird geballert. Ist das etwa ein Gotcha-Gelände?

Nachtrag zwei: Der Regen setzt ein.

Nachtrag drei: Juhuuu (in Moll gesungen).

Und Lyon #Gibrantiago

Anmerkung: dieser Artikel liest sich vielleicht gut zu den Klängen von ‘I Want More’ aus dem Album Flowmotin der Band Can.

Und dann Lyon, der Angstgegner, der sich schon zig Kilometer vor dem Zentrum in Villette als mutmaßlich hektisch erweist und nur acht Kilometer nach dem gestrigen Etappenstart windet sich ein sandiger, gut fahrbarer Weg am Rhôneufer und will und will nicht aufhören und der angekündigte Regen geht nieder und du ziehst die Regenhose über unter einem schrägstehenden, mit Efeu bewucherten Baum, der seine Last mit Würde trägt und vereinzelt ziehen regennasse Radler an dir vorbei, woher kommen sie, wohin gehen sie, wollen sie zur Arbeit und an jeder nur erdenklichen Ecke des Wegs, an der man zweifeln könnte, ob rechts, links, geradeaus, hält sich wie durch ein Wunder ein Engel auf, meist in Holzfällergestalt, oder mit schwerem Ölzeug bewandet als Bauarbeiter verkleidet, wie jener bärtige Kerl, den du fragtest, kann ich da am Fluss einfach so weiter, oder muss ich der Veloroute durch die Auen folgen, und er dir zunickt, klar, immer am Fluss bis Lyon und er dir nachruft auf deutsch bis bald und du ihm zurufst auf Wiedersehen und der Regen lässt ein bisschen nach und unter Brücken kannst du kurz durchatmen, die Stadt ist nah und laut und überall schwirren Autos und Mopeds und Dieselrußgestank liegt in der Luft und der Weg führt durch zwei oder drei Parks und plötzlich, die Stadt und ab nun bemühst du den Track auf dem Handy GPS und halt, Moment, diese Hausboote, das gibts doch gar nicht, da haben die einen golfplatzähnlichen Park angelegt mit einem Baum in der Mitte und alles ist umzäunt und videoüberwacht und eine Junkie kommt auf dich zu mit ihren knollenartigen Knien und labert dich an und du tritts ordentlich rein und ignorierst sie, während ein paar andere unter einer Brücke dir nachpöbeln und es dir eiskalt den Rücken runterläuft und dir wird die Zwiespältigkeit der Stadt bewusst, ihr kraftvoller Motor, der die Menschen ehrfürchtig anzieht, weil, hier spielt die Musik, und es kann nicht jeder schaffen, und die Vegetierenden ducken sich ängstlich verloren in wind- und regengeschützten Ecken, während du vorbeizischst, in der Hoffnung, nicht überfallen zu werden und mit all dem hochpreisigen Zeug am Leib musst du wirken wie eine goldene Gans, die man nur schlachten muss und rüber zur Saône folgst du einem radelnden Mädchen, das beflissentlich alle Ampeln ignoriert und bloß nicht den Fluss verlieren, langsam sickert der Dauerregen unter die Klamotten und mischt sich mit Schweiß, der nicht verdunsten kann und die Handschuhe sind klatschnass und warum ist es so verflixt schwer, mit klammen Händen in trockene Handschuhe zu schlüpfen, aber mit trockenen Händen in nasse geht ganz einfach und plötzlich, das Ortsausgangsschild schon und direkt geht die Stadt über in den Stadtteil Mulatière, was so arabisch klingt, findest du, und drüben im Hafen haben sie futuristische Häuser gebaut, knallrot und giftgrün und der Hafen jault und in den Häusern sind riesige Löcher mit Terrassen und Balkonen, soweit du erkennen kannst und der Regen lässt nach und der Regen starkt auf und das Grau des Himmels lastet insbesondere hier an der recht stark befahrenen D 15, der du seit dem Aquarium folgst, gar schwer, und da kommt dir der Typ gerade recht, der sich im Vorbeifahren aus dem Fenster seines Transporters beugt und dir quer über die Straße zuruft, bonne Chance, wie eine Comicfigur sieht er aus mit übergroßen Brülllippen und weit ausladender Geste mit dem linken Arm, und du denkst, du hast es langsam geschafft, als in Irigny endlich der erste Fetzen Radweg entlang der Straße auftaucht und du dich plötzlich fühlst wie ein kleiner Scott-Amundson, den Südpol erobert, Flagge gesteckt und du dahingleitest auf deinem superschnellen fünfzig Kilo schweren Seelenbike und der Radweg wieder aufhört und du in einer Lärm und Dunstglocke dreißig Kilometer hinter dich bringst und dir derweil überlegst, wieviele Päckchen Zigaretten umgerechnet wohl eine Stunde Radeln im Dunstkreis Lyons ausmacht und dann Givry und dann Givors und das Gedenkschild an die fünfzehnte Etappe der Tour de France im Jahr 2013, die nach 242 Kilometern auf dem Mont Ventoux endete und ach, fast hättest du es vegessen, dieses Hinweisschild, auf dem Stand, La Mer 368 Kilometer, ein vier, fünftägiger Nachdensternengriff und schwupp, Sand, Sonne, Süden und endlich-endlich kurz hinter Givors wieder Via Rhôna-Radwegschilder und ein solid ausgebauter echter Radweg und das Tal weitet sich und kurz vor der Abenddämmerung kannst du das Glück gar nicht fassen, dass du in einem Mandelhain ein Zeltplätzchen findest, das weit genug weg ist von allen Straßen und der Autobahn und den beiden, donnerwetter sind die laut, die Bahnlinien und du baust das Zelt im Regen auf, wirfst schnell alles Essbare und die Technik hinein, kurbelst den Trangia an, der dir als Zeltheizung dient und denkst über die Idee nach, einen Blogartikel mit ganz vielen Unds zu schreiben, ach, egal, du bist ja frei, tu es und sei erstaunt über die Schönheit und den Rhythmus, der ihm innenwohnen wird.

Ob Jack Kerouac wohl Blogger geworden wäre? #Gibrantiago

Jack Kerouac hatte kürzlich Geburtstag. Am 12. März wäre er 94 Jahre alt geworden. Dass er zwei Jahre nach meiner Geburt nicht einmal fünfzigjährig starb, ist glaube ich seinem exzessiven Lebenswandel zuzuschreiben. Mit dem Buch Unterwegs (On The Road) schrieb er sich zur Ikone der Beat-Generation. Auch hat er zahlreiche andere Bücher geschrieben, von denen ich Gammler, Zen und hohe Berge am liebsten hatte. Ich glaube, es war das Buch, in dem dieser Japhy Ryder vorkam, mit dem ich mich identifizierte, ein Mensch, der alles Materielle abwarf, in einer Hütte lebte, auf dem Boden schlief und irgendwann nach Japan oder Fernost auswanderte und verschwand. Genau weiß ich das nicht mehr. Es ist dreißig Jahre her, dass ich Kerouac las. Ich habe mich immer gefragt, wie der Mann mit seiner spontanen, gegen die damaligen Regeln der Literatur verstoßenden Schreibe, so bekannt werden konnte. Und ich frage mich, was wohl aus Jack Kerouac geworden wäre, wenn er heute leben würde. Ob er Blogger wäre? Ob er zu den Auserwählten gehören würde? Zu denjenigen, die die Verlage groß herausbringen, also zu denjenigen, von denen man sich erhofft, dass sie Gewinn abwerfen?

Sicher gab es einige von seiner Sorte, die nie bekannt wurden, die nie verlegt wurden, die nie mitspielen durften, obwohl sie ähnliche Produkte vorzuweisen hatten, wie Unterwegs (oder dazu in der Lage gewesen wären, solch ein Buch zu schreiben, allein, es fehlten die Anreize).

So mutmaße ich vor mich hin und benehme mich wie ein Astronom, der in den tiefen des Sonnensystem nach einem unbekannten neunten Planeten sucht, nur eben statt Planeten im Weltall verschollene Kunstwerke und literarische, nie gedruckte Schätze … Das Angenehme am Bloggen ist, dass es einem den Druck nimmt, sich und das woran man arbeitet zur Ware machen zu müssen.

Der Rhôneradweg entwickelt sich zu meinem absoluten Lieblingsfernradweg, so gut ist er ausgebaut und beschildert. Natürlich hat er Mängel, den größten wohl jenes etwa dreißig Kilometer lange Stück Departementsstraße zwischen Mulattière südlich Lyons und Givors. Da sind wir uns einig, der französische Rennradler und ich. Seit einigen Kilometern fahren wir nebeneinander her, meist schweigend, Reisegeschichten sind ja schnell erzählt. Da vorne liegt Bourg-Saint-Andéol, sein Wohnort. Im letzten Jahr radelte er die Via Rhôna ab Genf und nein, südlich von Lyon existiert tatsächlich kein Radweg, gibt es kein Entrinnen, da musst du auf die Straße, da hast du dich nicht getäuscht, Herr Irgendlink. Friss Dieselrußgestank.

In Bourg-Saint-Andéol biegt mein schweigsamer Freund ab und ich kaufe in einer Épicerie in dem schönen alten Städtchen eine Orange und ein Bier. Der Besitzer wollte sich gerade einen Joint bauen, als ich eintrete. Vom Band tönt Reggaemusik und ach, diese kleinen Städtchen alle. Wunderbar verwinkelte Etwasse. Eigentlich bräuchte man viel mehr Zeit für diese Route.

Zuvor hatte ich in Rocquemaure auf Anraten der Twitterkollegen @spmrider und @RecumbentTravel noch Wasser getankt. Auch wenn das alte Dorf nicht an der Via Rhôna liegt, lohnt sich ein Abstecher über die offenbar eigens für Radler und Fußgänger gebaute Hängebrücke. Ein verwinkeltes Etwas mit einer sehr populären Trinkwasserquelle. Aus zehn Rohren läuft im Brunnenhaus permanent Wasser und die Leute kommen von Nah und Fern, füllen kanisterweise ab. Wohnmobile und Kleinlaster fahren vor.

Ob dem Wasser eine Heilwirkung nachgesagt wird, frage ich einen Dorfbewohner. Nicht dass er wüsste, es sei einfach nur gut. Sein Vater und sein Großvater haben in der Abfüllanlage gearbeitet, die es einmal gab (ich konnte nicht herausfinden, ob sie noch immer in Betrieb ist, ich glaube, er sagte nein). Ganz früher habe man die Adligen mit dem Wasser beliefert.

Der gestrige Tag war der bisher wärmste Reisetag. Gegen Abend klarte die braunbläuliche Luft auf. Wunderbares Fotowetter und auch mal einfach so eine halbe Stunde draußen sitzen, ohne auszukühlen, radeln ohne Handschuhe. Die Lagerplatzsuche in der topfebenen Gegend nahe Pierrelatte war schwierig. Besessenes Land. Beregnungsanlagen. Einsame Gehöfte mit Hunden. Kein Camping weit und breit. Schließlich lande ich doch noch auf einem schönen Plätzchen am Fuß des Hochwasserdeichs. Eingekeilt von einem unheimlichen Donnern aus Richtung des nahen Kernkraftwerks und dem Brunftschrei argloser Tiere im Schilfland.

Gott, Wille, Glaube, Gibraltar #Gibrantiago

Die Luft ist raus. Total schlapp, nicht körperlich, sondern im Kopf. So muss sich die Rhône fühlen, nachdem sie sich nach dem langen Weg durch die Berge endlich in der weiten Ebene ab etwa Bourg-Saint-Andéol ausbreitet. Mäandriernd, geduckt, dem Meer entgegen, sichtbehindert von Schilf, froschbequakt, willfähriger Lagerplatz von Millionen Zugvögeln auf dem Weg nach Norden. Mein Hirn ist matsche. Oder leer? Ich bin nur noch ein Körper, der das Radel antreibt, auf dem er sitzt. Das Ziel, Gibraltar, existiert nur noch als Wort. Ich meine, es habe früher einmal als etwas euphorisierendes, bedeutungsvolles, wichtiges, etwas, was es wert ist, erreicht, erradelt zu werden, existiert. Aber die Gefühle von damals, kaum ein, zwei Wochen ist das her, sind nun weg. Seit ich in diesem verfluchten Flachland radele. Frisch bestellte Äcker. Gewächshäuser, die fernen Berge werden terrassenförmig abgetragen, eine Zementfabrik. Hunderte Transportfahrzeuge. Autos, Motorräder, Samstagnachmittag-zum-See-Rausfahrer und -griller. Andere Radler mit quietschbunten Trikots. Tour de France, Tour de France, Ouf-ouf-ouf.

Das Wetter ist wunderbar. Ich radele ohne lange Unterhose, ohne Handschuhe, im T-Shirt, schmiere das Gesicht und die Unterarme vergeblich mit 50er Sonnencreme ein. Ein Anschmieren gegen die zersetzende Kraft der UV-Strahlung ist das. Die Radwege ohne Autobeteiligung haben seit etwa Pont-Saint-Ésprit aufgehört und es geht auf meist ruhigen Landstraßen weiter. Obschon die Touristenroute, die eigens ausgeschildert fast direkt am Flussufer verläuft, nicht besonders schön ist, weiß ich den rauen Charme ihres Teers (@RecumbentTravel würde sagen: Bremsasphalt) durchaus zu schätzen gegenüber der direkt daneben verlaufenden, unradelbaren Kies-Alternative. Weiter-weiter-weiter und vom Gepäckträger aus krallt sich eine gewisse Lethargie in den Nacken.

Was ist bloß los? Ich habe das schon öfter festgestellt. Sobald die Widrigkeiten weg sind, Frost, Regen, Großstadtdschungel usw., macht sich die alles zermürbende Ziellosigkeit breit.

‘Ich könnte aufhören’ steht nun gleichauf mit der Idee, statt nach Westen abzubiegen, erst einmal runter ans Meer zu radeln und darüber gaukelt das Zeitfenster zur Rückkehr, das ich mir für Mitte April gesetzt habe. Wenn ich den Umweg über das Ende der Via Rhôna mache, verliere ich ein bis zwei Tage und ich habe vermutlich sowieso zu wenig Zeit, um es bis nach Gibraltar zu schaffen.
Mittags wechsele ich die Bremsbeläge am Vorderrad neben einer kleinen Brücke. Der Fahrradhändler meines Vertrauens hatte vor der Abreise leider keinen Ersatz auf Lager und so schufte ich mit Schweizer Taschenmesser und Steinen und viel Geduld das Gummi aus der Halterung und erdreiste mich sogar, den Bremsschuh zu ölen, damit der neue reinpasst.

Eine Schafherde treibt heran bis zur Brücke, wo ich wie ein Wallensteinheer die Stellung halte, kommt zum Stehen, traut sich nicht, traut sich tröpfchenweise vereinzelt doch, aber sobald ich mich bewege, schrecken die Tiere zurück. Also erstarre ich und beobachte das Herdentreiben. Gar nicht unähnlich sind die Menschen.

Nach den Schwierigkeiten mit den Frontbremsbelägen, stelle ich die Arbeit an den hinteren Belägen erst einmal zurück. Eine Bremse reicht. Ist ja sowieso alles flach hier. Marcoule, dreifach mit Stacheldraht umzäuntes Fabrikgelände, Fotografieverbot. Meingott, was ist das? Zwei Hundegassigänger klären mich auf, ein Nuklearzentrum, streng geheim. Anreicherung vielleicht? Viele Autos auf den Parkplätzen, viele Arbeitsplätze, Schichtwechsel, perpetuum-mobileske Selbstantreibungsmaschine, die aus Uran Energie erzeugt, um Autos zu erzeugen, mit denen die Menschen zur Arbeit fahren können, um Uran anzureichern, damit man damit Energie erzeugen kann.

Kunstbübchenrechnung, unvollständig, ich weiß, aber ich bin schräg drauf an diesem verklärt sonnigen Tag, mache viele Fotos.

Was ist das bloß mit dem Ziel und dem Weg, fabuliere ich. Sobald ich den Glauben an das Ziel verliere, macht es keinen Sinn mehr, den Weg zu gehen. Kann das so stehen bleiben? Man redet ja immer so viel über den Weg und das Ziel, ein Klassiker ist ja, der Weg IST das Ziel, was Andreas Altmann in einer bitterbösen Geschichte ad absurdum geführt hat und kurzerhand behauptete, das Ziel ist das Ziel und den Weg dahin als Ziel zu bezeichnen, ist eine Beleidigung für all jene, deren Weg hart und gemein ist.

So komme ich nun durchs Rhônetal kurbelnd zu der Idee, dass Weg und Ziel Hand in Hand gehen, und dass es ohne Ziel keinen Weg gibt und ohne Weg auch kein Ziel. Obendrein beginnt sowieso alles im Kopf, sprich, sobald das Ziel definiert ist, sagen wir Gibraltar, sucht man sich den Weg dahin und der Weg entsteht sozusagen erst, wenn es ein Ziel gibt.

Gott ist das Ziel, der Weg heißt Glaube. Interessanter Ansatz, Hirn. Ich bin nicht gottgläubig, aber ich kenne die ungeheure Kraft, die ein Glaube, woran auch immer, entwickeln kann. Glaube kann heilen, kann dich beruhigen, kann dir die Angst nehmen vor dem Unbekannten, vor Bösem und er kann einen Menschen ein vollbepacktes Fahrrad antreiben lassen, das ihn in die Richtung bringt, in die er will.

Gott, Wille, Glaube, Gibraltar.

Seit über zwanzig Jahren existiert mein affenfelsengewordener, selbst gebastelter Gott namens Gibraltar schon und es sind immerhin, ich glaube, vier Versuche gescheitert, dahin zu radeln. Mit Grauen denke ich ans Ebrodelta, das Rhônedelta ist dagegen ein Klacks. Im Ebrodelta schnürte mir in den 1990er Jahren die unheimliche Weite, gepaart mit winterlicher Tristesse regelrecht die Kehle zu.

Nein, es geht mir nicht schlecht, falls ihr das denkt. In den letzten zwanzig Jahen habe ich gelernt zu interpolieren, dann, wenn die Sinnkette zu reißen droht, habe gelernt mich ein, zwei, drei Tage, eine Woche, durchzuhangeln ohne Enthusiasmus, ohne dieses wahnsinnige, beflügelnde Gefühl, das günstigstenfalls die Fahrradreise vorantreibt. Habe gelernt, ohne den Glauben an die Sache dennoch weiterzumachen. Und das ist vielleicht eine der energischsten Eigenschaften, die man sich wünschen kann: weitermachen, auch wenn gerade kein Ziel sichtbar ist. Und dann ist er wieder da, der Glaube und das Vertrauen, denn irgendwo ist sie ja noch, die Vision, die einen noch vor ein paar Tagen beflügelte und sie wird auch wieder erstarken.

Hoffe ich.

Nahmenscherlebnisse #Gibrantiago

Horst brüllt: HEUTE IST UNSER TAG! Zwei, drei Wohnwagenfelder weiter antwortet jemand ohne Namen in ähnlicher Lautstärke. Horst kenne ich schon vom Vorabend. Seine Frau hat ihn so genannt. In schamlosem Zwiegespräch. Horst und der Mann ohne Namen sind bester Laune. Geschäftig rumpeln sie in ihren Wohnmobilen, was mit ein bisschen Phantasie fast so klingt wie ein fernes Gewitter. Wären da nicht die schrillen Zwischentöne klappernden Geschirrs. Es ist sieben Uhr früh, oder um es einmal auf europennerianisch zu sagen SIEBEN-UHR-PERVERS-FRÜH. Schreis laut, schreis in deine Seele hinein.

Ich bin somit ‘grumpy’, wie der Engländer sagen würde. Zwar war ich schon wach, aber unnötiger Lärm, der auf dem Slipstream der Rücksichtslosigkeit reitet, verärgert mich nunmal. Andere wollen vielleicht noch schlafen? Andere hören Horst und den Unbekannten vielleicht gar nicht, weil sie in schalldichten schneeweißen Luxusuniversen schlummern?

Kurze Zeit später baut eine Familie aus Bonn ihr Wohnwagenlager neben meinem Platz auf. Geräuschlos ist anders. Ich frage mich, wer um ACHT-UHR-PERVERS-FRÜH auf einem französischen Campingplatz eincheckt. Woher kommen die? Nachtfahrt?

Das Sahnehäubchen sind zwei Dieselrußgestanksabreisende, die das Wohnmobil erst einmal fünf Minuten warmlaufen lassen.

Nicht dass das Gesäusel mich jetzt noch stören würde, ich frage mich nur, wenn dieser Zeltplatz hier in Avignon repräsentativ für die Milliarden Menschen auf der Erde steht, wie groß ist dann die kumulierte Rücksichtslosigkeit (oder Gedankenlosigkeit) auf dem Erdball?

Erst mein Nachbar Serge, ein Belgier aus Gent, holt mich aus dieser Gedankenschleife wieder heraus. Wir halten ein Morgenschwätzchen um NEUN-UHR-PERVERS-FRÜH, tauschen Lächeln, Namen und er empfiehlt mir das alljährliche Festival in Gent, das im Sommer zehn Tage lang die ganze Stadt auf den Kopf stellt.

Draußen auf dem Radweg lasse ich den neuen Tag einsickern. Mit GPS-Track navigiere ich hinaus aus Avignon in Richtung Beaucaire. Meist über ruhige Landstraßen oder Landwirtschaftswege, miserabel ‘flickenteppichig’ geteert, aber dafür kaum Autos.

Beaucaire und Tarascon, Schwesterstädte diesseits und jenseits der Rhône. Tarascon hat ein wuchtiges Schloss, eine regelrechte Trutzburg, und Beaucaire einen riesigen Kanalhafen mit Hausbooten. Hier zweigt die Mittelmeerroute von der Via Rhôna ab. So sagen es die GPS-Tracks, die ich vor der Reise heruntergeladen habe.

Radwege gibt es keine mehr und auch keine Beschilderung. Dennoch hat die neue Route gut gewählte kleine Sträßchen, wenn man mal von einem ca. acht Kilometer langen Stück etwas forscherer Departementsstraße bei Saint-Gilles absieht. Das Meer ist nah. Luftlinie noch etwa 50 Kilometer. Wenn ich es heute noch dahin schaffen will, muss ich auf die Hauptstraße, dämmert’s mir. Die Radroute schlängelt sich im Zick-Zack, und schon bin ich in einer Gedankenschleife zum Thema Wollen gelandet.

Wie sich die Kräfte, die man einsetzt, um etwas zu erreichen, manchmal gegen einen wenden, ich meine rein innerlich, im Gemüt. Schon habe ich ‘Wunschvorstellung Meer heute, presto’, installiert und vergesse alles andere um mich herum, kurbele gehetzt, schnell, wider das eigene Gefühl. Der Verkehr auf dem kurzen Stück Schnellstraße vor Saint-Gilles fährt mir durch den Kopf, durch die Ohren, die Nase, selbst die Druckluft schnell fahrender Autos … nein, das geht so nicht, du musst das Meer aufgeben. Ob du es heute erreichst oder morgen, ist doch egal. Im Grunde sollte dir jede Zeitmarke egal sein, denn Zeit ist etwas von Menschen Gemachtes, das hier draußen in deiner langen Seelenreise eigentlich nichts zu suchen hat. Termine, Termine, Termine.

Ich folge treu dem GPS-Track, der gut ein Fünftel länger ist als die direkte Wegstrecke über die Schnellstraßen, und es gelingt mir, kurz hinter Saint-Gilles auf einer sehr ruhigen, kaum fünf Meter breiten Straße, mir das Meer aus dem Kopf zu schlagen; und plötzlich fliegen die Beine wieder und alles läuft rund. Trotz leichten Gegenwinds, ab und zu Autos und Motorrädern, allesamt, wegen der Enge der Straße höchstens sechzig Kilometer schnell, rücksichtsvoll überholend, Wohnmobilen mit einem Schwänzchen Autokorso im Schlepptau, unüberholbar, in einer Kurve zwei Motorradfahrer. Einer von ihnen hatte einen Unfall, sein Motorrad liegt geschrottet im Wasser. Die Straße endet rechts und links direkt in einem Entwässerungskanal. dahinter Schilf, dahinter Felder, Pferde, Rinder mit solchen Hörnern, Schafe, Wiese, Acker, später nur noch Natur, und ein tausendfaches Vogelzwitschern und -kreischen liegt in der Luft. Möwen, Störche, und hier und da duckt sich ein Ornithologe mit einem riesigen Teleobjektiv am Straßenrand. Wie viele Meter lang wohl alle Objektive der Gegend aneinandergereiht ergeben, schießt es mir in den Sinn.

Dämmerung. Fünf Kilometer geradeaus bis Gallician. Dort sei ein Campingplatz, sagen zwei Angler. Fehlanzeige. Am Hafen stehen zwei Wohnmobile. Ob ich mich dazustellen soll? Eine Frau gibt mir Trinkwasser. Ein irrer Bauer fährt mit dem Traktor und zwei auf dem Frontlader aufgespießten Heuballen durchs Dorf, nebenher läuft sein Hund und er schreit und lacht und ihn flankieren plötzlich zwei weitere Autos, fast wie ein Hochzeitskorso, nur ohne Brautkleid, und ich sorge mich um das Hundchen, das sich ab und zu gefährlich den Rädern des Treckers nähert. Ob ich den Verrückten nach einem Zeltplatz fragen soll? Oder einfach neben dem Sportplatz?

Nach reiflicher Überlegeung und in Erinnerung an die Nah-Mensch-Erlebnisse vom Morgen in Avignon, radele ich am Kanalradweg weiter, ein, zwei Kilometer, baue das Zelt im letzten Abendlicht auf. Ein Froschkonzert lullt mich in den Schlaf.

Welcome to the Adventure Zone

Das Liveschreibprojekt kommt an seine Grenze. Nicht, dass ich mich dazu zwingen möchte, jeden Tag akribisch etwas zu notieren im Blog, das wäre ein großer Fehler. Es würde die Lesenden langweilen. Das Problem liegt in den Unterschieden zwischen Blog und Buch. Ein Blog verzeiht Redundanz, es braucht sogar bis zu einem gewissen Grad die Wiederholung, die immer wiedere Erwähnung der Basics. Das Buch hingegen muss von all dem bereinigt werden (wie ich es mit der überarbeiteten Version von Ans Kap getan habe. Somit kann ich mir die Idee abschminken, nach der Reise, zu Hause vor einem fertigen Buch zu sitzen und nur noch die Tippfehler zu eliminieren. Im Gegenzug gibt es Elemente, die so kompliziert sind (und womöglich noch gar nicht fertig erlebt im Liveschreibleben), dass es unmöglich ist, sie direkt zu notieren. Schon vor ein zwei Wochen habe ich einige Geschichten, die zu kompliziert oder unpassend waren, in das schwarze Notizbuch – handschriftlich, gut, alt, klassisch – skizziert. Die letzten Tage waren zum einen etwas schnellere Tage, zu anderen und schwierigeren Teil sind die Geschichten dazu nicht so einfach zu schreiben, weshalb ich beschlossen habe, sie erst einmal auszuklammern und diesen Artikel auf privat ins Blog zu laden für eine spätere Überarbeitung.
21. und 22. März (Tag 25 und 26) Das Meer, Küstenradweg, der verschwindet und wieder kommt, und zwar mit erstaunlicher Güte, zum Glück! Welcome to the Adventurezone. Überlegungen zu leerstehenden Ferienparks, Flüchtlingen, Europa, Dekadenz, Egoismus, Gedankenlosigkeit. Zustandsbeschreibung eines Kontinents, der die Welt leersaugt am Beispiel eines kleinen Küstenstreifens, an dem sich alljährlich die hart arbeitenden, über ihre eigenen Wohlbefindlickeitsgrenzen gehenden, oft frustriert gelangweilt, an der eigenen Sinnsuche gehinderten Menschen des Landes treffen.

Der Artikel greift einem Gespräch mit Hagen und Christine vor (Tag 27), in dem es um Hagens Reise zum Autosalon geht, um Christines Testfahrten für Conti, um den Europapark in Rust, in dem Hagen an einer Webhosterkonferenz teilnahm, um verschiedenfarbige Bremsen an teuren Autos (wie Karategürtel), Knopfanzahl an Anzügen, all die Probleme, mit denen sich der im alltäglichen Überlebenskampf des westlich zivilisierten Businesslebens stehende Mensch konfrontiert sieht, hinzu kommen vernachlässigte Kinder, die bespaßt werden wollen, die man sich in den Ferien vom Hals halten möchte (hier einen Ringschluss zum Entstehen der Ferienparks mit Bespaßungsmaschinerie einfügen und eine nassforsche Prognose, wie der Mensch als Gesellschaftswesen mehr und mehr dem Unglück entgegenwächst, weil er alle Löcher, die sich vor ihm und seinem ramponierten Seelenleben auftun verzweifelt mit noch mehr Spaß und Ablenkung füllt).

Zusätzlicher Exkurs in eine fiktive zukünftige Welt, in der es keine Menschen mehr gibt, und das einzige, was übrig geblieben ist, ist dieser Küstenstreifen von ein, zwei Radreisetagen Länge mit leerstehenden, verbarrikadierten Hotels, Zäunen und am Horizont ragt das Monsteruniversalfliehkraftspielgerät – Außerirdische würden vielleicht vermuten, damit haben sie sich letztlich durch ein Wurmloch in ein anderes Universum katapultiert …

Hier der ursprüngliche Artikelentwurf.
Ein Rastamann auf dem Fahrradlenker! Tse. Nein, nicht auf meinem, auf seinem eigenen Fahrradlenker, sitzt der Kerl und kurbelt fröhlich rückwärts, immer mal wieder über die Schulter blickend, über die Sonnenbrille schielend, zielsicher, in Schlangenlinien zwischen all den Leuten hindurch, die die Frühlingsfrische auf dem Radweg zwischen Meer und Montpellier genießen. Spaziergänger, Radfahrer, Skater, Paare mit Kinderwagen, Birdwatcher. Wie extra einbestellt staksen rosarote Flamingos in den Seen und Tümpeln, durch die sich der Radweg schlängelt und ich trete ordentlich rein, bis ich bei einer Pferderanch erst bemerke, dass ich die Abzweigung verpasst habe und drauf und dran bin, nach Montpellier zu radeln. Meine Strecke führt da drüben, auf der anderen Seite des Kanals. Schon vor drei Kilometern hätte ich über die Brücke gemusst. Ein Kaffeeautomat, Sitzbänke, andere Touristen, ich frage nach Wechselgeld für einen Fünfeuroschein und man schenkt mir die Münzen für einen Kaffee. Mal gewinnt man, mal verliert man, dröhnt es im Jahrmarktsjargon schneidisch in meinem Kopf. Erst einmal Luft holen, Kaffee trinken, ausruhen. Die Sonne scheint. Auf dem Pferdehof werkelt jemand. Das Pärchen am Nebentisch erklärt mir eine Brücke ganz in der Nähe, puuuh, aber die Brücke ist so eng und so verbarrikadiert (damit auch ja kein Moped durch kann, das verstehe ich) wie die Radwege in Kent. Ich muss die Packtaschen abnehmen und das Radel über die Barriere wuchten. Auch andere Radler haben ihre Schwierigkeiten, selbst ohne Gepäck.

Morgens noch sah es so aus, als seien die guten Radwege nun endgültig passé. Über Strandpromenaden holperte ich auf Betonplatten entlang des Meers westlich von Grau-du-Roi, zwar auf einer beschilderten Route, doch wohin sie führt, und ob sie offizieller Teil des Mittelmeerradwegs ist, stand nicht auf den Schildern. Mittels GPS und dem Track, den ich gespeichert hatte, gelang aber die Navigation ganz gut. Kaum hatte ich auf Twitter das Ende aller Radwege in Südfrankreich verkündet, gab es wieder Pisten, sogar mit aufgemaltem Mittelstreifen, ganz wie auf richtigen Straßen. Bis Sète kann man also ganz auf Radstrecken fahren, die meist entlang normaler Straßen führen.

Im Hochsommer dürfte es allerdings schwierig sein, durchzukommen, denn die Gegend ist voller Hotels und Campingplätze, Restaurants und Schwimmbäder, Spielplätze, Casinos, Ferienappartements und es gibt etliche Bootsparkplätze, in denen die Motorboote, teils auf dreistöckigen regalähnlichen Gebilden überwintern. Der Sommer muss hier ein Tumult ohne Gleichen sein.

Vergnügungsparks, in denen fleißige Arbeiter alles, an dem der Lack abblättert, wieder auf Hochglanz bringen, mit Sprühpistolen frischen Lack aufbringen. Jenseits von Sète und Agde liegt ein Spaßbad am anderen, Rutschbahnen, eine Achterbahn in einem Europapark, der mit einem frechen übergroßen Clownsgesicht am Hauptgebäude Kinder anlockt und gegenüber eine düstere Bude, ebenfalls mit Clownsgesicht, das aber eher wie der Joker in Batman aussieht, mit bösen Augen und einer Pistole im Anschlag. Guter Vergnügungspark, böser Vergnügungspark. Piercen kann man sich auch lassen.

Frankreichs Abenteuerzone.

Reset

Wenn dies eine Mount Everest-Expedition wäre, wäre ich nun wohl im zweiten Basislager (wieviele Basislager gibt es am Mount Everest überhaupt?) angelangt. Das letzte Basislager vor dem finalen Anstieg.

Fitou, Weindorf in der Nähe von Perpignan, sonnen- und windverwöhnt, das nach starkem Regen und ein paar Tagen Wind immer aussieht wie mit dem Kärcher gesäubert, sagt mein Freund Hagen.

Die dreißig Kilometer von meinem Felsen, hinter dem gestern das Zelt leidlich vorm Tramuntana geschützt stand bis nach Fitou zu @fimidi @hagengraf, waren geprägt vom bis knapp hundert Kilometer schnell tosenden Tramuntanawind. Aus Nordwesten kommend kann er bis zu drei Wochen anhalten, erklärte mir ein dickbäuchiger Seemann mit SOLCHEN Oberarmen in Port-La-Nouvelle. Zum Glück muss ich nicht nach Nordwesten. Dennoch ist es schwierig, das Europennerradel im Wind zu navigieren. Meist habe ich Seitenwind, dessen Böen mich hin und her werfen, das Fahrrad steht dann schräg im Wind. Die Böen kommen unvermutet. Wenn man Glück hat, kündigen sie sich durch ein Grummeln in den Pinien an. Einmal drückt es mich eine Böschung hinauf am Kanalradweg und es ist ein Glück, dass der Kanal rechts von mir, auf der windzugewandten Seite liegt. Ein andermal, kurz hinter Port-La-Nouvelle, droht der Tramuntana, mich eine zwei Meter tiefe Böschung hinabzudrücken. Unvergessen bleibt mir jener Moment, in dem er einige Kilometer weit direkt von hinten kommt und ich ohne zu treten mit dreißig Sachen nur so dahinsegele.

Gegen Mittag treffe ich bei Hagen und Christine ein. Lecker Pudding, dampfend warm, Kaffee, absacken, das schöne, rote Appartement beziehen, das Frau Soso und ich im letzten Winter gemietet hatten, ach und dann auch die Wehmut und die Erinnerungen an damals, und nun bin ich aber alleine hier in der Bude mit dem bequemen, frisch bezogenen, großen Bett.

Wie so ein Reset der Reise wirkt das. Ich weiß nicht, ob mir das gut tut. (Klar tun Erholung und Dach überm Kopf gut, aber die Wehmut …).

Nun sitze ich hier auf dem Bett und schreibe diese Zeilen, draußen tost noch immer der Wind und fast kommt es mir vor wie eine kleine Falle der Glückseligkeit, eine unheimliche Schwerkraft des Geborgenseins, die mir die Abreise schwer macht, ich schon liebäugele, einen Tag länger zu bleiben und mit der Angst ringe, dass mit jeder Minute, die ich in diesem Kokon verbringe, das Weiterfahren noch schwerer wird. Denn der Wind wird mich noch bis mindestens Argelès-sur-Mer, etwa vierzig, fünfzig Kilometer südlich hin- und herschütteln. Es sei ein Wetterphänomen, das aus der Kälte der Pyrenäen im Kontrast zur Hitze des Flachlands geboren wird und dann entstehen dermaßen große Luftdruckunterschiede, dass es tage- und nächtelang so weitergeht.

Anyway. In einer Stunde werde ich wieder im Sattel schaukeln, muss mir nur noch überlegen, wie ich zurück auf die Radlerroute komme, denn Landstraße fahren bei diesem Sturm behagt mir gar nicht.

Vorhin habe ich noch einen unreifen Blogartikel privat ins Blog geladen, den ich gedenke, für das E-Book, das aus dem Blog entstehen wird, noch auszuarbeiten.

Die Gratwanderung zwischen Blog und Buch ist nicht sehr einfach. Oft reicht die Zeit nicht, einen Artikel zu schreiben, bzw. den Anspruch an die Qualität zu erfüllen. Diese stets galoppierende Gegenwart.

Manchmal liegen auch noch nicht alle Puzzlestücke für einen Artikel vor.

Unheimliche Gedankengebäude, die es gilt, einzureißen #Gibrantiago

Herzklopfen. Unruhe. Im Kopf rattert die Gedankenmühle, was soll ich bloß tun? Noch einen Tag hierbleiben, hoffen, dass es besser wird mit dem Wind, oder weiterradeln, vielleicht einen Bahnhof finden, einen Zug, der in Windeseile durch einen Tunnel in Spanien ist?

Die Wetter-App, auf der ich mir die Windstärken angeschaut habe, sagt für die Gegend um Perpignan sturmähnliche Bedingungen voraus, 69 km/h gar in Argelès, wo der Eurovelo 8 gen Westen abbiegt und somit ekelhaftes Seitenwindwetter herrschen würde. Böen, die einen um Meter versetzen.

Vor dem Stück Landstraße, dem ich ab Fitou bis etwa Rivesaltes folgen muss, graut mir am meisten. LKW und Autokolonnen, von denen sicher nicht jeder Fahrer im Bilde ist, wie es um Radler bei Windböen steht. Zudem man das mit dem Sicherheitsabstand auch nicht so eng sieht.

Noch sitze ich in dem schönen warmen, weichen Bett im roten Appartement von @fimidi, strahlender Sonnenschein, der selbst die abgewetzten Wanderschuhe vor der Tür schön aussehen lässt. Im Kokon. Sicher. Aber in meinem Kopf hat sich längst eine Vision für den Tag gebildet. Da drinnen im Grauen Prozessor denkt sich irgendwas die Strecke voran, Kilometer um Kilometer zunächst mit Rückenwind südöstlich auf’s Meer zu, dann auf der roten Linie, die im GPS angezeigt wird und die den Mittelmeerrradweg, den Eurovelo 8, markiert weiter, hoffentlich auf eigenen Fahrradstrecken … ach ne, das kannste hier im Süden vergessen, mischt sich eine Skeptikerstimme ein, bestenfalls Feldwege, bestenfalls leicht befahrene Landstraßen, bleib doch noch ‘nen Tag, aber da mahnt schon eine andere Stimme, willste hier versauern, warten bis der nächste Regen kommt, der Tramuntana bleibt drei Wochen, so will es das Gesetz.

Ich bin an diesem Morgen in einem Zustand des nichtradelnden Radlens für ein, zwei Stunden. Beide Entscheidungen sind möglich, beide sind richtig, aber was wichtig ist, in diesem Moment, das wird mir erst später klar, ist die Diskrepanz zwischen der Welt, wie ich sie mir im Kopf zurechthübsche (oder im Fall besser gesagt zurechthässliche) und dem Unbekannten, was mich auf den vierzig Kilometern bis Argelès und den weiteren zwanzig, dreißig Kilometern bis zur spanischen Grenze, bis zum Pyrenäenpass bei Le Boulou erwartet.

Im Nachhinein muss ich sagen, ich hatte ja keine Ahnung und die Wetter-App lügt wie gedruckt.

Raus aus Fitou. Zunächst zwei Kilometer Weinbergswege, dann die gefürchtete Departementsstraße, wo auch schon gleich beim Auffahren eine Kolonne LKW mit Rattenschwanz an Autos vorbeizischt. Aber: es gibt einen Seitenstreifen, auf dem sich prima radeln lässt. Sicherheitsabstand per Naturgesetz sozusagen. Und: Der Tramuntana ist bei weitem nicht so stark, wie am Tag davor. Zudem hält die parallel laufende Autobahn auf ihrem hohen Damm und die Hügel im Westen ein Gutteil des Windes ab. Leichtes Radeln bis Salses und ab dort folge ich ruhigen Landstraßen bis Canet zum Euroveloradweg. Mit Rückenwind. Dann folgt Gegendarstellungnummer zwei – wie ein strenger Lehrer Lempel hebt sich eine Stimme, ein Zeigefinger in mir, ein winziges, züchtigendes Stöckchen, das mich oberschullehrerhaft belehrt, traue nie deiner eigenen Vorstellung, mach dir kein Bild von dem, was dich womöglich erwartet, mach dir überhaupt kein Bild, es verängstigt dich doch nur, und falls du dir mal ein positives Bild machst und die Realität davon abweicht, wirst du enttäuscht. Ab Canet, wieder auf dem Eurovelo 8-Track angelangt, führt die Strecke durch eine Art Obstgarten mit mannigfach blühenden Bäumchen, Schilf, Weinbergen, fast durchweg auf Radwegen; ab Argelès ist der Eurovelo 8 parallel zur Hauptstraße auf eigener Trasse geführt mit perfekter Beschilderung. Es sind genau vierzig Kilometer bis nach La Jonquera, der ersten Stadt in Spanien. Der angekündigte 69 km/h-schnelle Wind ist ein laues Lüftchen. Ich radele auf den Canigou zu, ein fast 3000 Meter hohes, schneebedecktes Massiv, aber mit moderater Steigung in der Ebene des Flüsschens Tech.

Abends im Zelt muss ich mir eingestehen, dass ich frühmorgens im Bett ein völlig falsches Bild von der Realität gebaut hatte, bestehend aus falschen Informationen und garniert mit Unwissen und hanebüchenen Vermutungen, was mir unnötigerweise die Kraft aus den Knochen gesaugt hat.

Und nun, da ich dies schreibe, auf glücklichen Wegen durch ganz Frankreich bis fast zur spanischen Grenze geradelt, finde ich noch einige unheimliche Gedankengebäude vor, die es gilt einzureißen. Etwa die 600 Kilometer von Alicante bis Gibraltar, die auf massiv befahrenen Hauptstraßen durch meinen Kopf führen, oder der Dauerregen in Ripoll, in den Pyrenäen, der mich ab übermorgen – rein gedanklich – erwartet, Nebel und Schnee und ab und zu ein Gipslaster, der Saint Laurent ansteuert, um Rigips für deutsche Trockenbauten abzuholen. All die Gespenster im eigenen Kopf, die man sich alltäglich selbst zusammendenkt aufgrund falscher Fakten und Ängste: könnte man sie nur ein für alle Mal bannen, man könnte glückneugierig durchs Leben wandeln.

Spanien lernen #Gibrantiago

Diese Geräusche, woher die wohl kommen? Eine kurze Schiebepassge einen unheimlich steilen Stich hinauf auf der Via Verde del Carrilet, ausnahmsweise betoniert, legt dieses Geräusch frei. In rhythmischen Abständen kracht etwas, das ich zwischen Ende hinteres Schutzblech und Tretlager orte. Die Bremse würde wohl eher der Unwucht des Rades folgen und Fffft fffft machen, aber das hier? Krtzzz krtzzz.

Es ist heiß. Ich ignoriere das Geräusch und als ich kurze Zeit später auf dem grobkörnigen Sandweg radele, ist es auch schon wieder verschwunden. Übertönt vom Mahlen des Gummis auf der stetig mit etwa vier Prozent ansteigenden alten Bahntrasse. Das sind doch vier Prozent, oder? Vielleicht sogar fünf oder sechs? Wie steil haben die denn früher ihre Bahntrassen gebaut? Die anderen Radler kommen mir jedenfalls mit einem Affenzahn entgegen und ich schaffe es kaum über 12 km/h zu kommen. Oft führt der Weg durch zehn, zwanzig Meter hohe in den Fels gehauene Schluchten, rechts und links senkrecht durchfräster Basalt, dann wieder über Dämme, Brücken, unter Brücken hindurch, an denen sogar manchmal noch der Ruß zu sehen ist, den die Dampfloks hinterlassen haben. Sogar einen kleinen Tunnel gibt es kurz vor dem Coll de Bas, dem 580 Meter hohen Pass, den man erklimmen muss, um hinüber nach Olot zu kommen.

Spaniens Radwege sind schon speziell, wenn man mit der Vorstellung eines Deutschen von Fernradwegen an sie herangeht. Schon an der Grenze bei Le Perthus hätte mir klar sein können, dass der Wanderpfad, der von Regenerosion zersetzt ist und genau der Route folgt, die das GPS empfiehlt, der Radweg Eurovelo 8 ist – ich bin natürlich dem Teerweg nach Le Perthus gefolgt, ins Grenzstädtchen, und stand erst einmal in einem Autostau. Kein Durchkommen zwischen Gehwegkante und den Autos, weshalb ich es vorzog, bis zur Grenze zu schieben. Am Karfreitag waren die Lederwaren, Tabak- und sonstigen Läden in der Hauptdurchgangsstraße alle offen, Supermärkte, Polizisten, Dieselrußgestank, jenseits der Grenze Nutten, Sexshops, Tankstellen, Weingroßhandlungen und noch mehr Tabakläden – auf veritablem Gefälle rauschte ich auf dem Standstreifen der Nationalstraße an all dem vorbei und traf kurz vor La Jonquera auf den Track des Eurovelo. Ein Schotterweg, irgendwie fahrbar. Sogar Radwegeschilder gibt es. Pirinexus, so heißt der Radweg hier, daneben das Eurovelo-Logo. Hier bin ich richtig . Für etwa 500 Meter. Dann quert der Radweg auf einem Singletrail einen Bach. Unter drei Betonbrücken für Landtraße, Bahnlinie und Autobahn. Nein, es gibt keine Radlerbrücke. Höhnisch weist ein Schild den Radweg durch die Furt aus, die jemand mit dem Quad durchquert hat, so sagt es die Spurenlage.

Ich habe mir zum Glück kein Bild gemacht von spanischen Radwegen. Hatte allenfalls erwartet, dass sie über Landstraßen führen.

Ich muss das Land erst lernen. Seine Ladenöffnungszeiten, seine Grußformeln, seine Radwegelogik. Genug Zeit habe ich ja. (Und überhaupt, Spanien? Aus allen Fenstern hängt die katalanische Flagge und in zahlreichen Graffitis fordert man Autonomie).

Bis zur Küste bei L’Escala folgte ich den Schildern des Pirinexus, die deckungsgleich mit dem GPS-Track meist über Feldwege leiten. Kurz hinter La Jonquera hätte ich beinahe aufgegeben, wäre auf die Nationalstraße zurück, aber das Schieben, gut einen Kilometer hinauf ins Hinterland, hat sich gelohnt. Kurz vor dem Dorf Capmany tat sich eine nigelnagelneue Teerpiste auf, die durch eine wunderbare Art Endmoränengegend (oder wohl eher Vulkan-) führt mit riesigen Felsbrocken zwischen Olivenhainen. Und diese Farben, rotbraungrünolivblaugelb, herrlich. So könnte der Pirinexus also einmal werden, wenn man genug Geld dafür bereitstellen würde. Tapfere spanische Radler, sogar mit Gepäck, kamen mir entgegen. Das gibt mir stets das Gefühl, nicht ganz alleine zu sein, auf dem richtigen Weg zu sein. Offenbar kennen sie gar nichts anderes und nehmen die Wege einfach so hin.

Immerhin, die etwa zehn Kilometer Radwegeausbau geben Hoffnung.

Das vorgestrige Zeltlager nahe L’Escala. Neben einer wilden Mülldeponie in einem Pappelhain. Da ich vermutete, dass früh die Jäger auftauchen, stehe ich mit der Dämmerung auf und beschließe, nicht den Bogen über San Feliu zu machen, sondern samstagsfrüh direkt über Landstraßen nach Girona zu radeln und erst dort wieder in die Via Verde del Carrilet einzusteigen.

Die Via Verde ist ein bisschen besser ausgebaut und recht stark befahren. Mountainbiker rasen einem mit einem Affenzahn entgegen. Dazu Spaziergänger oder Menschen, die einfach nur am Wegrand stehen und starren.

Das erste Stück raus aus Girona ist etwas mühsam. Es führt durch Kleingärten. Auf der zweimeterfünfzig-breiten Piste stauen sich einander entgegenkommende Autos. Irgendwie mogele ich mich durch.

Ab Amet entwickelt sich die Carrilet zu einem waschechten Bahntrassenradweg.

Das Krachen am Rad habe ich noch immer nicht lokalisiert. Ich weiß auch nicht, ob ich es so genau wissen will. Am heutigen Ostersonntag kann mir sowieso niemand helfen. Ein weiteres Wehwehchen, das ich selbst verschuldet habe, war die gestrige Lagerplatzsuche. Was habe ich mir über die Jahre immer eingebläut, fahre nicht bei Dämmerung in eine größere Ansiedlung und trotzdem stehe ich plötzlich am Stadtrand von Olot. Der Camping Natura von Les Preses war dem feinen Herrn ja nicht gut genug. Die Felder in der weiten Ebene schienen ihm ja zu gut einsehbar, zu sandig, zu sehr mit Weizen bebaut, zu eingezäunt, zu privatbesessen, kurzum zu illegal und der Lavapark zwischen Les Preses und Olot, der die ein oder andere gute Zeltmöglichkeit geboten hätte, wer weiß, wer sich da nachts rumtreibt.

Zugegeben, auf dem Camping Natura wäre ich nicht glücklich geworden. Dicht an dicht standen Wohnwägen und etliche Hunde verbellten sich in verzweifelter Reviermarkiererei gegenseitig. Der Stress der Tiere hätte sich die ganze Nacht auf mich übertragen und wer weiß, ob überhaupt ein Plätzchen frei gewesen wäre. Ich peile einen Camping vier Kilometer außerhalb von Olot an und verlasse in der Dunkelheit die Stadt. Steil bergauf. Erster bis dritter Gang. Massiver Verkehr, Warnweste, Rücklicht, Schwitzen, Sternenhimmel. Am Ortsrand meine ich, nicht mehr zu können. Das Monster, nachts berghoch auf dieser Straße, zwei Kilometer weit und womöglich vor verschlossener Tür zu stehen, krallt sich in meine Schädeldecke. Ich schaffe mich rüber auf eine Wiese, die gut zeltbar wäre, aber sogleich schlagen die Hunde in der Nachbarschaft an. Wenn man zwischen den Hundegebellen Linien zieht, kann man auf den Meter genau das Europennerlager ausmachen.

Schon überlege ich, zurückzufahren zum Hotel Fluvia, das ich passiert habe. Da kommt mir in den Sinn, auf dem GPS Satellitenbilder einzublenden, um herauszufinden, ob hier etwas zeltbares ist. Tatsächlich, gleich um die Kurve, erster Weg links, Wiese, Waldstück, kein Farmhaus sichtbar, also auch keine Hunde.

Ich ächze weiter. Die Kurve ist da, aber ich kann den Weg nicht finden. ächze weiter berghoch, da, ein Schild. Der Camping. Nur einen Kilometer entfernt. Das schaffe ich.

Und Uff. Endlich da. Camping offen, Rezeption zu. Eine späte Pfadfindergrupe mit 21 Kilometern in den Beinen gesellt sich zu mir. Und sie machen einen Wachmann ausfindig. Diese Engel. Und der Platzwart kommt noch einmal aus dem Feierabend, registriert uns alle.

Gebeutelt, erschöpft, wie Lemminge, verkriechen wir uns in einem kleinen Wäldchen und bauen im Schein der Stirnlampen die Zelte auf.

Hund, Techno oder Paradies? #Gibrantiago

Jetzt bloß keinen Kreuzschlitzschraubendreher brauchen. Und auch keinen Schlitzschrauber. Schaltungeinstellen kann ich wohl knicken, denn genau dafür bräuchte ich den Bit, der am Pass de Canes liegt. 1120 Meter hohes Ding. Wetterscheide. Prüfstein, Beinahekollaps der Schaltung. Eines der beiden kleinen Zahnräder des hinteren Schaltwerks hatte sich von seinem Lager gelöst und steckte quer, scheinbar unreparierbar. Das Radel wäre wegen so eines winzigen Defekts nur noch als Schieberad zu benutzen (was auch okay gewesen wäre, da man die knapp 15 Kilometer von Olot hinauf zum Pass sowieso nur mit fünf bis zehn Kilometern pro Stunde vorankommt). Der Nieselregen, der mich ortsausgangs Olot begleitete, hatte zum Glück nachgelassen und ich war guter Dinge, diesen ersten von drei oder vier Pässen bis hinüber ins Hinterland um Lleida schmerzlos erklimmen zu können. Bewusst habe ich nicht erforscht, wie hoch der Pass ist. Die Kenntnis von der Schwere des Hindernisses, das es zu bewältigen gilt, egal, ob dies nun ein Berg ist, oder irgendein anderes Hindernis, kann sich unter Umständen als Gegenkraft manifestieren und einem den Weg, den man ohnehin zurücklegen muss, zur Hölle machen. Fidele Passfahrerei ohne Vorankommenswunsch sozusagen.

Ich musste die Schaltung zerlegen, mitten auf der Straße, was gefahrlos möglich war, denn niemand, absolut niemand, benutzt offenbar die Straße. Über Minuten, zig Minuten kurbelte ich alleine auf der N-260a. Sie ist wohl die alte Straße, die nun fast stillgelegt ist. Zudem Ostersonntag. Irgendwo parallel gibt es eine neue, vermutlich mit Tunnel.

Schwarze Hände bis fast zum Ellbogen, als hätte ich einer öligen, mechanischen Kuh bei einer Steißgeburt geholfen. Nimmerabgehendes Fett. Beide Rädchen ausgebaut, hämmere ich das kaputte mit dem Schweizermesser wieder auf sein Edelstahllager und vertausche die beiden Räder.

Ab da lief es dann wieder, bis ich unten in Ripoll noch ein paar andere Schrauben nachziehe und dabei bemerke, dass ich den Bit habe liegen lassen.

Kaufe Brot und ein Stück Pizza in einer ostersonntagsoffenen Bäckerei, beobachte den stoßweisen Verkehr in der Hauptstraße, esse Banane, beobachte zwei Jungs, die an der Hauptverkehrsstraße Fußball spielen auf einem länglichen Fußballfeld namens Gehweg, weine dem Bit nach, überlege, wofür ich das Werkzeug im Notfall brauchen würde, komme zu dem Schluss, dass es verschmerzbar ist, schwöre mir, auf einer Parkbank in der Sonne direkt neben der Hauptstraße, direkt neben dem länglichen Fußballfeld sitzend, endlich einmal alle Schrauben am Radel nachzuziehen. Das Gerüttel im eigenen Kopf, löst das Schrauben? Weiß man da schon was drüber?

Raus aus Ripoll bei einem zentralen Kreisverkehr, der die alte N-260a mit der N-260 vereint, regeln zwei blutjunge Polizisten den Verkehr, jeder mit einer Trillerpfeife bewaffnet, und ich werde Zeuge eines eigenartigen Konzerts. Jetzt Komponist sein, jetzt die Situation beim Schopfe packen, jetzt dieses stoßweise Trillern mitschneiden, ihm den letzten Schliff geben, ein Meisterwerk schaffen mit dem Arbeitstitel Almabtrieb. Das wärs. Das würde das längste Konzert der Welt in Halberstadt alt aussehen lassen. Philip Glass könnte einpacken. Ha. Konzertale Allmachtsphantasien. Ich könnte stundenlang in diesem Kreisverkehr stehen und den Beiden zuschauen. Neben mir brummen die Diesel und von rechts pumpt es eine nichtendenwollende Autoschlange aus den Bergen. Mit Skiern auf dem Dach, mit Anhängern hintendran, auf denen solch schmutzige Motocrossmaschinen stehen und Kleinwagen und Lieferwagen voller Großfamilien und die beiden Verkehrspolizisten rudern mit den Armen und wechseln, als stünde da irgendwo ein unsichtbarer Dirigent, virtuos den Trillerrhythmus.

Ein, zwei Kilometer auf den beiden (vereinten) N-260s und schon bin ich wieder raus aus dem Getümmel, kurbele meine So-sollte-es-sein-Straße hinauf Richtung Berga, auf der wieder kaum Verkehr herrscht, und wenn, dann langsam, vorsichtig, rücksichtsvoll.

Wieder ein Pass von unklarer Höhe. Als ich bei Matamala, dem vermutlich oder hoffentlich höchsten Punkt, das GPS einschalte, zeigt es mir 974 Meter an. Und abwärts. Ziel ist Borredà, wo sich der Kreis zu meiner Reise 2010, einer meiner gescheiterten Gibraltarexpeditionen, endlich schließen soll. Aber so weit komme ich gar nicht. Ein Campingplatzschild lockt mich etwa fünf Kilometer vorher weg von der Straße. Und da ich müde bin und im ganzen Tal wegen Naturschutzes das Wildzelten verboten ist, biege ich ab und lande … naja, auf einem suboptimalen Platz voller Leben und Hunde, die mich und das Radel sofort bebellen, umringen, belechzen, einer will sogar am Radel hochklettern, aber die Leute sind so freundlich und so lasse ich mich ein unter dem Motto ‘wild geht nicht, Leute nett, buche es als Erfahrung’, checke ein beim stoischen Besitzer, der meine Personalien in den Computer hackt, mir einen Cortado (winziger, kurzer Kaffee) bereitet und schon palavere ich am Tresen mit zwei Typen, die mir Spanien erklären, eine Karte malen, etwas von der Vuelta erzählen und ich soll doch die Küste runter radeln, durch Barcelona, schwer, ihnen klarzumachen, dass ich Ruhe brauche und das Durchradeln von Großstädten für mich Horror ist (da war diese Barcelonadurchquerung 1992, als wir auf einer fünfspurigen Autobahn auf dem Seitenstreifen nach Süden rausradelten, nein, nicht nur wir, auch etliche barcelonische Freizeitradler).

Der Camping ist zweigeteilt. Auf dem oberen, ziemlich belegten Platz herrscht reger Betrieb. Es gibt nur zwei Zeltplatzmöglichkeiten. Entweder neben dem Waschhaus, direkt unter einer Hütte, aus der Technomusik dröhnt, oder beim Spielplatz vor der Rezeption, in der es heiß hergeht und vor der die Hunde herumstreunen.

Hund oder Techno?

Der untere Platzteil scheint geschlossen. Schon will ich vorm Technohaus die Heringe in den Boden treiben, da sehe ich, dass sich unten, im Paradies beim Bach, doch etwas tut. Also nix wie hin.

Puh. Das ging gerade nochmal gut.

Das Zelt steht nun abseits des Getümmels und ich habe eine neue Faustformel für mich gefunden, die da lautet: soweit weg wie möglich von den Menschen (und ihren Hunden).