Gerade habe ich in einem Intermarché die Vorräte aufgefrischt, Butter, Trinkjoghurt, Kleinigkeiten für vier, fünf Euro, bin weitergeradelt zur Bäckerei hinter der Rhônebrücke rechts, hatte man mir erklärt, habe ein Baguette gekauft und ein unendlich fettiges, leckeres, pizzaähnliches Ding, überquere nun die Hauptkreuzung im Dorf, vorbei an einem ziemlich verdreckten Kerl mit Fahrrad in Lumpen und Plastiktüten, unterwegs rhôneaufwärts. Kurzer Gruß über die Straße hinweg. Dann sind wir beide in unsere Richtungen unterwegs. Begegnungen, wie lange dauern sie? Was sagen kurze Augenblicke des Sichtkontakts über uns aus?
Schon sitze ich abseits im Dorf auf einer Mauer, nicht sehr gemütlich direkt an der Straße, aber ich musste unbedingt stoppen, um die Pizza zu essen, die man mir in der Boulangerie gewärmt hatte, solange sie noch warm ist.
Der Bettler geht mir nicht aus dem Kopf. Ich frage mich, was das für ein Leben ist, hinausgekugelt aus dem gesellschaftlichen Gefüge. Keine Freunde, die einen mal für ein zwei Nächte beherbergen. Kein Geld, minderwertiges Material, aus Kleidersspenden zusammengestoppeltes Outfit. Kein Ort, an den man zurückkehren könnte in die wohlige Mitte der Gesellschaft. Vom Winter bedroht, vom Frühling verhöhnt, vom Sommer und Herbst ver-was-auch-immert. Verdammt, auf Ewigkeit alleine, schmutzig, endend durchs Land zu ziehen ohne Ziel. Auf der Flucht und noch nicht einmal zu wissen wovor.
Die aus der Gesellschaft ausgekugelten. Wie nimmerreparierbare Hüftgelenke.
Ich bin ja so verwöhnt, dämmert es mir. Zugegeben, ich bin nicht reich, und wenn man die Armutsgrenze aus dem kürzlich veröffentlichten alljährlichen Armutsbericht als Bemessungsgrundlage nehmen würde, könnte man aus mir vielleicht zwei Arme machen, rein materiell gesehen. Aus dem Mann, der mir eben begegnete vielleicht fünf oder zehn? (Anzahl der Armen, die du bist: Durchnittseinkommen durch dein Jahreseinkommen). Ich weiß es nicht.
Es geht vielleicht nicht einmal so sehr um Materielles, was die Armut betrifft, die Flucht und all die modernen Übel, sondern um Perspektive.
Ich gondele mit geringsten Mitteln durch Europa, habe ein konkretes Ziel vor Augen und die selbst erdachte Mission, alle zehn Kilometer zu fotografieren, zu bloggen, zu twittern, Kunst zu schaffen und das Leben auf der Straße auf meiner kleinen, virtuellen Bühne hochleben zu lassen. Das alles mit dem Hintergrund, jederzeit aufhören zu können, jederzeit in den Zug oder gar den Flieger steigen zu können und daheim – zwar keine Luxuswohnung, aber immerhin – ein solides Dach über dem Kopf vorzufinden. Freunde zu haben, mich fallenlassen zu können, die Wunden zu lecken und zu heilen.
All das hat mein mir eben begegneter Fremder vielleicht nicht. Und wenn ich dem kurzen Blick, weniger als eine Sekunde im Vorbeizischen in seine Augen trauen kann, meinem Gefühl, dann hat er definitiv nichts und niemanden, der oder das ihm auch nur irgend Halt gibt in dieser Welt.
Schon fabuliere ich, auf dem Mäuerchen sitzend, Pizza schmatzend an meiner kindlichen Weltausgleichsformel, die ich mir irgendwann einmal ausgedacht habe. Eine Formel, die Teilchenphysik mit Sozialwissenschaft mischt: immer wenn sich zwei Menschen begegnen (wie Teilchen, die aufeinandertreffen in einem Teilchenbeschleuniger), müsste die Regel gelten, sie legen all ihren Besitz zusammen und teilen durch zwei und gehen dann weiter, so lange, bis sich alle Menschen dieser Erde begegnet sind und logischerweise alle gleichviel vom großen Weltenkuchen abbekommen haben. Im Fall hätte ich die etwa 150 Euro in meinem Geldbeutel mit den vielleicht dreißig Euro aus dem Geldbeutel des Bettlers zusammenlegen müssen und am Ende wären er und ich mit 90 Euro in unsere jeweiligen Richtungen weitergezogen. Kalte Teilchen vom großen Weltenbeschleuniger zur Kollision gebracht.
Ich gebe zu, die Idee ist kindlich, naiv, aber man muss manche Ideen trotzdem denken, wenigstens denken.
Niemand würde das tun, der genug hat, einem x-beliebigen Fremden gegenüber den Geldbeutelinhalt offenbaren und teilen. Niemand. Auch ich nicht.
Das Wohlfühlradeln hat ein vorläufiges Ende ziemlich genau mit Eintreten ins Departement Ain. War die Via Rhôna am Vortag zwischen Seyssel und ungefähr Morestel noch als eigene, kleine Miniautobahn durch die Flussauen ausgebaut, muss ich nun auf zwar ruhige Landstraßen ausweichen. Ab der Kirchenruine Saint Martin de Vernas führt der Radweg aber auf feierabendlich hektischer Landstraße. Viele LKWs. Einzig beruhigend ist, dass ich an dem schönen Vorfrühlingstag nicht alleine bin. Hunderte Rennradler, teils in Gruppen von zwanzig Fahrern, radeln auch in der Verkehrshektik. Rücksichtsvolle Überholmanöver. Ich orientiere mich an dem GPS-Track, der in Schlangenlinien versucht, die Hauptstraße zu umgehen und dabei auf kiesige Holperpfade ausweicht, auf denen man teilweise nur Schritttempo radeln kann mit all dem Gepäck. Das kurze Stück nach Villette d’Anthon, nur etwa zehn, fünfzehn Kilometer zieht sich. Von Norden nähern sich Wolken. Die Einflugschneise von Lyon Saint-Exupéry grüßt mit Fluglärm. Deutlich spürt man den Einfluss der Großstadt. Die Wohngebiete sind videoüberwacht. Überall Verbotsschilder, Zäune, Hunde, Securityfirmenschilder, Wachsameaugensymbole. Je mehr Stadt, desto größer Armreich.
Die Schere.
Schon in Baume-les-Dames nördlich des Juras habe ich die Schere am eigenen Leib zu spüren bekommen, als ich auf einem Campingplatz übernachten wollte, der aber nur Wohnmobile aufnimmt. Keine Europennerzelte. Wenn du ein Hunderttausend-Euro fahrbares Haus hast, bist du dort gerne gesehen, aber mit Zelt und Fahrrad, schickt man dich einfach fort (Claire, die Platzwartin, hatte mir liebenswerterweise ein Gästezimmer ertelefoniert, es war ohnehin grenzwertig kalt in jener Nacht).
Dennoch, im Laufe meiner Lebensjahre kann ich das Aufklappen der Schere am eigenen Leib spüren. Kam man früher für zwanzig, dreißig Euro in einer Pension unter, sind es heute fünfzig bis achtzig. Wurde man früher mit Zelt und Fahrrad für acht Euro auf einem Campingplatz aufgenommen, darf man heute froh sein, dass überhaupt der Menschentyp Europenner, Mensch mit Zelt, noch legal existiert. Wir verillegalen uns gegenseitig, oder das System tut es für uns.
In Villette steuere ich in feierabendlicher Hektik den Campingplatz an, von dem ich mir schon vor der Reise Daten aus dem Internet gesucht hatte, ob er offen ist etwa. Ja, ganzjährig. An der Rezeption begrüßt man mich freundlich ratlos und fleddert erst einmal den Computer, denn der Typ einzelreisender Zeltradler für nur eine Nacht, existiert eigentlich nicht im System.
Mindestaufenthalt ist zwei Nächte und das Hauptgeschäft des Campinparks ist die Vermietung von Hütten und, wie ich später sehe, unheimlich phantasievollen Baumhäusern. Dennoch gibt es eine Zeltwiese neben Tennisplätzen, achja, und gleich gegenüber ist eine Ferienranch, hoch umzäunt, aus der ich just in diesem Moment, in dem ich dies schreibe, eine Art militärische Vorbeterei höre, sprich, einer brüllt etwas vor und eine ganze Schar brüllt im Chor ihm nach. In meiner Vorstellung machen da Uniformierte irgendwas für oder gegen vermeintlichen Weltfrieden, aber hey, das hier sind Ferienanlagen, ein Golfplatz mit was weiß ich wievielen Löchern zieht sich hinüber nach Lyon, das kann nur eine Animation sein.
Pierre, der neue Chef des Platzes, setzt alle Hebel in Bewegung, um mich zu legalisieren, sucht den billigsten Tarif aus dem Computer, berechnet die Kurtaxe, insgesamt kommen wir auf sechzehn Euro und vier Cent für eine Nacht (was meine insgeheime Schmerzgrenze von 15 Euro um 1,04 Euro überschreitet, aber hey, schlägt Pierre vor, ich darf zum gleichen Preis auch zwei Nächte hierbleiben. Er hat das Herz am rechten Fleck. Mit einem akkubetriebenen Golfcaddy flankiert er mich zur Zeltwiese, besorgt mir ein Verlängerungskabel, damit ich die Akkus aufladen kann, drückt mir schließlich noch eine Art Geschenkbox, einen bunt bedruckten Kubus aus Pappe, in die Hand, in dem sich ein Müllsack und eine Rolle Klopapier und eine Schachtel Streichhölzer befinden. Unter den phantastischen Baumhäusern steht nun mein Zelt.
Außer Einflugschneise ist der Platz sehr idyllisch. Ein schöner Familiencamping vor den Toren Lyons.
Meine Idee, heute zu ruhen und mit dem Zug nach Lyon zu fahren, muss ich wohl aufgeben. Es gibt keinen Bahnhof in der Nähe. Ich wäre auf Mitfahrgelegenheiten der wenigen Campinggäste angewiesen.
Ich werde nun frühstücken und schaffe es hoffentlich noch vor dem angesagten Regen um zehn Uhr, das Zelt trocken abzubauen.
Nachtrag: nebenan wird geballert. Ist das etwa ein Gotcha-Gelände?
Nachtrag zwei: Der Regen setzt ein.
Nachtrag drei: Juhuuu (in Moll gesungen).