Wenn ich den Weg zurückschaue, immerhin eine Woche bin ich schon unterwegs nach Süden, so hat sich von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, manchmal sogar von Minute zu Minute ein unvorhersehbares Etwas entwickelt, das mich selbst in Erstaunen versetzt.
Vorgestern Abend etwa stehe ich vor der Anzeigetafel für die Züge am Bahnhof von Laissey und starre den riesigen Monitor an, auf dem die Züge angekündigt werden. Man kann von hier aus nach Besançon, nach Montbéliard, nach Dijon und nach Belfort fahren. Stündlich gehen die Züge und wenn ich den nächsten Richtung Basel (via Montbéliard) kriegen will, muss ich das Radel nur durch die Unterführung schieben und einfach einsteigen. Automaten gibt es keinen. Das Bahnhofsgebäude ist vernagelt, stillgelegt. Offenbar kauft man die Fahrkarten im Zug.
In diesem Moment, die Anzeigetafel betrachtend, bin ich in einem eigenartig überlagerten Zustand zwischen Zugfahren und auf dem Flussradweg weiterradeln. Fast wie ein quantenphysisches Teilchen, von dem die beobachtenden Wissenschaftler nicht wissen, wie es sich verhalten wird. Selbst ich weiß es nicht.
Es ist somit ein Wunder, dass ich einen Tag später in einem Café in L’Isle-sur-le-Doubs sitze, wieder in so einer Art ‘Cat like state’ (Schrödingers quantentheoretisches Experiment mit der Katze lässt grüßen) – was werde ich als nächstes tun? Es schneit fette Flocken pappig nassen Schnees und alle Vernunft sagt, geh zum Bahnhof, nimm den Zug nach Basel. Ich trinke Kaffee. Das Radio beschallt den Raum mit Reggaemusik. Am Tresen steht einer und raucht. Derweil kurvt der nagelneue Kehrroboter der Bedienung durch den Raum und fegt die Kippen auf und die Papierchen vom Zucker. Ein zweiter Kaffee. Ich frage die Tweetosphäre (per Kurznachricht auf Twitter), wie es wohl weitergeht. @der_emil erklärt mir den Weg zum Bahnhof. @wortvoll meldet Wetterbesserung ab 15 Uhr. Und tatsächlich, der Schnee lässt nach. Das quantenphysische Teilchen namens Irgendlink nimmt den Zustand Radler an, statt, wie der imaginäre Wissenschaftler wohl vermutet hätte, Bahnfahrer.
Weiter gehts auf dem wunderbaren Flussradweg Richtung Montbéliard (die alte württembergische Exklave Mömpelgard, wie mir @jot_el vor einigen Tagen erklärt hat).
Der Schnee kommt nicht wieder bis abends 18 Uhr. Schon habe ich Mömpelgard durchquert, passiere schweren Herzens ein Buchsbaumlabyrinth in einem Park (was wäre ich darin gerne eine Weile umhergeirrt, aber wegen der Nähe der Dämmerung will ich mich schnell aus der Stadt schaffen und einen Zeltplatz oder ein Zimmer finden).
Drei andere Radler begegnen mir. Nicht glücklich sehen sie aus in ihren Regenklamotten und mit Rucksäcken und Packtaschen. Gegen 18 Uhr schaue ich mich nach einem Zeltplatz um und in einer Apotheke, in der ich um Wasser fragen will, frage ich aufs Geratewohl auch nach einem Zimmer im Dorf und die Apothekerin nimmt beherzt das Telefonbuch, sucht eine Nummer, wählt, während ich quantenphysisches, eigenartiges Experiment mich von einem ‘Camp like State’ in einen ‘Bed and Breakfast like State’ begebe. Schwupp habe ich ein Zimmer im kleinen Dorf Bourogne: über die Brücke bis zur Épicerie, links ab zum alten Waschhaus und da direkt gegenüber, Coté Grange.
Wo hätte ich vor einer Woche, als ich aufbrach mit dem Plan, östlich der Vogesen am Rhein entlang zu radeln, gedacht, dass ich westlich der Vogesen auf Kanalradwegen radele?
Hätte, hätte, Fahrradkette.
Mein heutiger Plan: per Radel via Mulhouse bis nach Basel Badischer Bahnhof und dort per Zug nach Laufenburg fahren. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es so kommt.
Irgendwo streichelt jetzt bestimmt ein alter, verwirrter Quantenphysiker seinen weißen Bart und wundert sich.