Die Luft ist raus. Total schlapp, nicht körperlich, sondern im Kopf. So muss sich die Rhône fühlen, nachdem sie sich nach dem langen Weg durch die Berge endlich in der weiten Ebene ab etwa Bourg-Saint-Andéol ausbreitet. Mäandriernd, geduckt, dem Meer entgegen, sichtbehindert von Schilf, froschbequakt, willfähriger Lagerplatz von Millionen Zugvögeln auf dem Weg nach Norden. Mein Hirn ist matsche. Oder leer? Ich bin nur noch ein Körper, der das Radel antreibt, auf dem er sitzt. Das Ziel, Gibraltar, existiert nur noch als Wort. Ich meine, es habe früher einmal als etwas euphorisierendes, bedeutungsvolles, wichtiges, etwas, was es wert ist, erreicht, erradelt zu werden, existiert. Aber die Gefühle von damals, kaum ein, zwei Wochen ist das her, sind nun weg. Seit ich in diesem verfluchten Flachland radele. Frisch bestellte Äcker. Gewächshäuser, die fernen Berge werden terrassenförmig abgetragen, eine Zementfabrik. Hunderte Transportfahrzeuge. Autos, Motorräder, Samstagnachmittag-zum-See-Rausfahrer und -griller. Andere Radler mit quietschbunten Trikots. Tour de France, Tour de France, Ouf-ouf-ouf.
Das Wetter ist wunderbar. Ich radele ohne lange Unterhose, ohne Handschuhe, im T-Shirt, schmiere das Gesicht und die Unterarme vergeblich mit 50er Sonnencreme ein. Ein Anschmieren gegen die zersetzende Kraft der UV-Strahlung ist das. Die Radwege ohne Autobeteiligung haben seit etwa Pont-Saint-Ésprit aufgehört und es geht auf meist ruhigen Landstraßen weiter. Obschon die Touristenroute, die eigens ausgeschildert fast direkt am Flussufer verläuft, nicht besonders schön ist, weiß ich den rauen Charme ihres Teers (@RecumbentTravel würde sagen: Bremsasphalt) durchaus zu schätzen gegenüber der direkt daneben verlaufenden, unradelbaren Kies-Alternative. Weiter-weiter-weiter und vom Gepäckträger aus krallt sich eine gewisse Lethargie in den Nacken.
Was ist bloß los? Ich habe das schon öfter festgestellt. Sobald die Widrigkeiten weg sind, Frost, Regen, Großstadtdschungel usw., macht sich die alles zermürbende Ziellosigkeit breit.
‘Ich könnte aufhören’ steht nun gleichauf mit der Idee, statt nach Westen abzubiegen, erst einmal runter ans Meer zu radeln und darüber gaukelt das Zeitfenster zur Rückkehr, das ich mir für Mitte April gesetzt habe. Wenn ich den Umweg über das Ende der Via Rhôna mache, verliere ich ein bis zwei Tage und ich habe vermutlich sowieso zu wenig Zeit, um es bis nach Gibraltar zu schaffen.
Mittags wechsele ich die Bremsbeläge am Vorderrad neben einer kleinen Brücke. Der Fahrradhändler meines Vertrauens hatte vor der Abreise leider keinen Ersatz auf Lager und so schufte ich mit Schweizer Taschenmesser und Steinen und viel Geduld das Gummi aus der Halterung und erdreiste mich sogar, den Bremsschuh zu ölen, damit der neue reinpasst.
Eine Schafherde treibt heran bis zur Brücke, wo ich wie ein Wallensteinheer die Stellung halte, kommt zum Stehen, traut sich nicht, traut sich tröpfchenweise vereinzelt doch, aber sobald ich mich bewege, schrecken die Tiere zurück. Also erstarre ich und beobachte das Herdentreiben. Gar nicht unähnlich sind die Menschen.
Nach den Schwierigkeiten mit den Frontbremsbelägen, stelle ich die Arbeit an den hinteren Belägen erst einmal zurück. Eine Bremse reicht. Ist ja sowieso alles flach hier. Marcoule, dreifach mit Stacheldraht umzäuntes Fabrikgelände, Fotografieverbot. Meingott, was ist das? Zwei Hundegassigänger klären mich auf, ein Nuklearzentrum, streng geheim. Anreicherung vielleicht? Viele Autos auf den Parkplätzen, viele Arbeitsplätze, Schichtwechsel, perpetuum-mobileske Selbstantreibungsmaschine, die aus Uran Energie erzeugt, um Autos zu erzeugen, mit denen die Menschen zur Arbeit fahren können, um Uran anzureichern, damit man damit Energie erzeugen kann.
Kunstbübchenrechnung, unvollständig, ich weiß, aber ich bin schräg drauf an diesem verklärt sonnigen Tag, mache viele Fotos.
Was ist das bloß mit dem Ziel und dem Weg, fabuliere ich. Sobald ich den Glauben an das Ziel verliere, macht es keinen Sinn mehr, den Weg zu gehen. Kann das so stehen bleiben? Man redet ja immer so viel über den Weg und das Ziel, ein Klassiker ist ja, der Weg IST das Ziel, was Andreas Altmann in einer bitterbösen Geschichte ad absurdum geführt hat und kurzerhand behauptete, das Ziel ist das Ziel und den Weg dahin als Ziel zu bezeichnen, ist eine Beleidigung für all jene, deren Weg hart und gemein ist.
So komme ich nun durchs Rhônetal kurbelnd zu der Idee, dass Weg und Ziel Hand in Hand gehen, und dass es ohne Ziel keinen Weg gibt und ohne Weg auch kein Ziel. Obendrein beginnt sowieso alles im Kopf, sprich, sobald das Ziel definiert ist, sagen wir Gibraltar, sucht man sich den Weg dahin und der Weg entsteht sozusagen erst, wenn es ein Ziel gibt.
Gott ist das Ziel, der Weg heißt Glaube. Interessanter Ansatz, Hirn. Ich bin nicht gottgläubig, aber ich kenne die ungeheure Kraft, die ein Glaube, woran auch immer, entwickeln kann. Glaube kann heilen, kann dich beruhigen, kann dir die Angst nehmen vor dem Unbekannten, vor Bösem und er kann einen Menschen ein vollbepacktes Fahrrad antreiben lassen, das ihn in die Richtung bringt, in die er will.
Gott, Wille, Glaube, Gibraltar.
Seit über zwanzig Jahren existiert mein affenfelsengewordener, selbst gebastelter Gott namens Gibraltar schon und es sind immerhin, ich glaube, vier Versuche gescheitert, dahin zu radeln. Mit Grauen denke ich ans Ebrodelta, das Rhônedelta ist dagegen ein Klacks. Im Ebrodelta schnürte mir in den 1990er Jahren die unheimliche Weite, gepaart mit winterlicher Tristesse regelrecht die Kehle zu.
Nein, es geht mir nicht schlecht, falls ihr das denkt. In den letzten zwanzig Jahen habe ich gelernt zu interpolieren, dann, wenn die Sinnkette zu reißen droht, habe gelernt mich ein, zwei, drei Tage, eine Woche, durchzuhangeln ohne Enthusiasmus, ohne dieses wahnsinnige, beflügelnde Gefühl, das günstigstenfalls die Fahrradreise vorantreibt. Habe gelernt, ohne den Glauben an die Sache dennoch weiterzumachen. Und das ist vielleicht eine der energischsten Eigenschaften, die man sich wünschen kann: weitermachen, auch wenn gerade kein Ziel sichtbar ist. Und dann ist er wieder da, der Glaube und das Vertrauen, denn irgendwo ist sie ja noch, die Vision, die einen noch vor ein paar Tagen beflügelte und sie wird auch wieder erstarken.
Hoffe ich.
Erst fragte ich mich, ob es denn gut ist, so deutlich vom eigenen Zweifel zu sprechen. Dann kamen die Schafe.
Und dann Dein durch Denken das Ziel und den Weg (er)schaffen …
Ich finde es gut und mutig, über die eigenen Zweifel zu schreiben – Hut ab.
Reflexion unseres Tuns (und diese Fähigkeit daraus eine Veränderung unseres Verhaltens abzuleiten) unterscheidet uns von Tieren.
Ich bleibe am Gedanken hängen, dass es eine energische Eigenschaft ist, auch mal ohne Glauben an die Sache ein paar Schritte weiterzugehen.
Ein zweischneidiges Ding: wenn wir länger oder gar “zu lange” etwas tun, woran wir nicht mehr “glauben”, macht uns das zu Willenlosen. Andererseits müssen wir tatsächlich manchmal auf die Zähne beißen, “kämpfen”, nicht aufgeben, “uns selbst überwinden” um oder weil …
Ausdauer
versus
Aufgeben
Wann was?
Ich kaue daran in mir noch weiter, dankbar für deinen Gedankenanstoß.
Hallo Jürgen,
aus der Erfahrung in Südtexas [geographisch gesehen südlicher als Kairo] kann ich nur sagen: pass’ gut auf die Sonne auf, und schmiere Dich immer dick mit Sonnencreme ein. Schutzfaktor 50 ist hier für mich das absolute Minimum, und zwar auf allen freien Hautflächen, sogar wenn ich nicht länger als eine Stunde draußen bin.
Liebe Grüße,
Pit
Danke, Pit, noch reicht 50 und ich bräune langsam den Pelz.
Na ja, Du bist ja auch weiter noerdlich unterwegs. Und ich bin vielleicht – zumindest seit ich hier bin – vorsichtiger geworden.