Begegnungen

Der Typ, der einen potemkinschen Sturm vorhersagte in Lemberg an Tag zwei der Reise, fünfzig Kilomter pro Stunde aus Osten. Sportradler, Titanrahmen, winziger Rückspiegel am Fahrradhelm, ich würde nicht durch den Wald radeln, ruft er hinter dir her, doch du trällertest längst ein Shallala und erfreutest dich an kaltblauem, nimmertrübbarem Himmel.

Zwei Steppkes in der Nähe des Flugplatzes Lunéville wie sie fröhlich über die Straße riefen, Bonjour Monsieur, zwanzig Meter weit weg und du antwortetest Bonjour, ça va, und sie dich in ein Gespräch verstrickten, woher, wohin und wieso nicht mit einem Elektrorad, das wäre doch viel leichter zum Vorwärtskommen.

Unzählige Bäckerinnen in unzähligen Boulangerien, wie sie sich alle unsiono von dir anhören mussten: Une Baguette s’il vous plaît. Vous avez Pizza? Quiches? Croques Monsieurs? Irgendwas Salziges bitte? Na gut, dann Éclaires.

Jener wehende, schwarze Gothic-Mantel auf dem Zweibrücker Herzogplatz, du nähertest dich ihm von hinten, gerade mal vier Kilometer im Sattel, ein Typ wie Darth Vader mag sich dahinter verstecken, mutmaßtest du und dein Blick schweifte zum Bismarckdenkmal und schon bist du vorbei an dem Kerl im Gothic-Mantel, der fast auf dem Boden schleift. Neugierig drehtest du dich um und schautest in das gutmütige Gesicht eines rothaarigen Kerls mit SOLCH einem Bart, der gut und gerne gerade einem Asterix-Comic entsprungen sein könnte, trüge er nicht diesen Mantel.

Madame Magaud aus der Pilgerherberge, irgendwo unweit von Vesoul, wie sie gegenüber am Tisch saß, dir beim Frühstück Gesellschaft leistete und von ihrem Leiden erzählte. Seit August letzten Jahres ein Krankenhausaufenthalt nach dem anderen, und nun habe sie ein künstliches Kniegelenk und sie geht ziemlich schwer, gekrümmt, wie gerne sie einst Fahrrad fuhr, aber nun geht das nicht mehr. Lecker schmecken ihre kreativen Marmeladen, in die sie allmögliches Zeug pürriert, Karotten, Zucchini, Früchte, alles, was vermatschbar ist, Substanz hat und sich süßen lässt.

Gerade eben erblicktest du das riesige Boulangerie-Werbegemälde an einer Hauswand jenseits des Canal de l’Est und verpürtest Lust auf Pizza, irgendwas Salziges oder ein Éclaire und überlegtest, der ausgeschilderten Route dahin zu folgen, unter einer Brücke unter dem Kanal hindurch, Bains-les-Bains ist nicht mehr weit, zurück ins Dorf, man muss ja die kleinen Geschäfte in den kleinen Dörfern unterstützen, aber halt, halt halt, da gebietet dir die Vernunft Einhalt, eh du zurück fährst gegen den Wind, frag‘ doch den Mann, der sich da unten auf der Böschung abrackert mit dem Weidezaun, ob der Bäcker überhaupt auf hat. Ein altes Männlein stand im eiskalten Nordwind und zerrte Maschendraht aus Wiese und du riefst hinunter und er verstand dich nicht und du besannst dich und riefst lauter, kann ich ihnen helfen, anstatt: ist die Bäckerei auf, radebrechend, brachialfranzösisch und schon hattest du das Radel auf dem Kanalradweg abgestellt und ächztest hinunter, wo er dich dankbar durch den Sehschlitz, den seine Woll-Vermummung freigab, anschaute und gemeinsam zogt ihr den Zaun heraus, befreitet ihn von Gras und Gestrüpp. Nein, die Bäckerei ist zu. Es ist Montag, halb drei, aber da, cinque Kilomètres in diese Richtung, zeigte dir der Mann gestikulierend, im nächsten Dorf, da gibt es einen Distributeur, einen Brotautomaten.

Ein knallrotgesichtiger Typ unweit von Épinal schob sich dir mit fünf Kilometern pro Stunde wandernd entgegen. Aufaddiert mit deiner Radelgeschwindigkeit rauschtet ihr mit zwanzig Sachen aneinander vorbei. Wie lange dauert eine Begegnung, fragtest du dich. Was nimmt man dabei wahr?

Claire, herrliche Claire, die dich nicht auf dem nur für Wohnmobile zugelassenen Campingplatz von Clerval zelten lassen mochte und stattdessen eine halbe Stunde von Hotel zu Hotel telefonierte, von Pension zu Pension, von Gîte zu Gîte und dir ein wunderbares Zimmer aushandelte für 45 Euro pro Nacht, Sonderpreis, weil sie die Wirtin kennt und du ihr schließlich so dankbar warst, denn es wurde bitterkalt in der Nacht und so ein Zelt zwischen lauter Wohnmobilen ist wie ein Straßenköter bei der Leistungshundeschau, nichtwahr?

Unzählige Motorradfahrer an Tag zwei um La-Petite-Pierre.

Stoische Angler hin und wieder an den Kanälen, an der Mosel, am Doubs, an allem, was irgendwie fließt, steht, tief genug ist, um Fische zu enthalten. Mühsam rangst du ihnen Gruß um Gruß ab.

Drei Reiseradler in der Industrieanlage östlich von Montbéliard, Hunde bellten dich aus der Stadt und, zisch, sind die Radler an dir vorbei, ohne auch nur Anstalten zu machen, zu stoppen und nach dem Woher und Wohin zu fragen. Es war kalt, es hatte den ganzen Tag geregnet und geschneit und die bedauernswerten Kettenhunde in ihren hektargroßen, fein abgezäunten Industriegeländepferchen, die dich aus der Stadt hinausbellten, werden sie nun hineinbellen.

Eine Apotheke, heureka, eine Apotheke, in der du um Wasser fragen könntest fürs abendliche Zeltlager, denn hier auf den Dörfern nahe des Sundgaus, irgendwo zwischen Vogesen und Jura, wirst du doch bestimmt kein Zimmer kriegen, oder etwa doch? Beherzt griff die Apothekerin zum Telefonbuch, blätterte, fand eine Nummer, wählte, nickte, lächelte dich an, nahm einen Zettel, es roch nach Medizin, skizzierte den Weg zu der Herberge, die sie dir gerade ertelefoniert hatte.

Telefonbücher, überhaupt! Wieviele Seiten hat man für dich in diesen ersten acht Tagen der Reise gewälzt?

Marguerite-Marie und Dominique. Hättest du gedacht, dass du schon am dritten Reisetag französisch Konversation betreiben würdest, die weit über das Woher und Wohin und das Guten Tag und Aufwiedersehen und das Wie viel kostet das, ich hätte gerne hinausgeht? Sie luden dich in ihr Haus an der Mosel ein. Herrlich, ihnen zuzusehen, wie sie eigens für dich ein riesiges französisches Bett bezogen, das ist gar nicht so einfach, und du sagtest ihnen, das wäre ein Fall für die Sendung Carambolage auf Arte, die die Eigenarten der Franzosen und der Deutschen miteinander vergleicht. Französisch gebettet schliefst du wie … na, sie wissen schon.

Diese erholsamen Ruhetage im schönen Aargau hier nun bei Frau SoSo, jeden Tag das gleiche Spiel mit dem Nachbarn wie er abends nach der Arbeit nach Hause kommt, zum Briefkasten geht, ihn aufschließt, die Post rausnimmt, den Kasten wieder zuschließt, graue Kleider trägt er, zur Haustür geht, aufschließt, im Treppenhaus verschwindet, langsam die Tür zufällt, es ist 17:30 Uhr.

Ein Gedanke zu „Begegnungen“

  1. Hallo Juergen,
    diese wirklich interessanten Reiseschnippsel lassen Deine Tour prima nachempfinden. Danke fuer’s Mitnehmen. 🙂
    Weiterhin safe bicycling,
    Pit

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