Diese Geräusche, woher die wohl kommen? Eine kurze Schiebepassge einen unheimlich steilen Stich hinauf auf der Via Verde del Carrilet, ausnahmsweise betoniert, legt dieses Geräusch frei. In rhythmischen Abständen kracht etwas, das ich zwischen Ende hinteres Schutzblech und Tretlager orte. Die Bremse würde wohl eher der Unwucht des Rades folgen und Fffft fffft machen, aber das hier? Krtzzz krtzzz.
Es ist heiß. Ich ignoriere das Geräusch und als ich kurze Zeit später auf dem grobkörnigen Sandweg radele, ist es auch schon wieder verschwunden. Übertönt vom Mahlen des Gummis auf der stetig mit etwa vier Prozent ansteigenden alten Bahntrasse. Das sind doch vier Prozent, oder? Vielleicht sogar fünf oder sechs? Wie steil haben die denn früher ihre Bahntrassen gebaut? Die anderen Radler kommen mir jedenfalls mit einem Affenzahn entgegen und ich schaffe es kaum über 12 km/h zu kommen. Oft führt der Weg durch zehn, zwanzig Meter hohe in den Fels gehauene Schluchten, rechts und links senkrecht durchfräster Basalt, dann wieder über Dämme, Brücken, unter Brücken hindurch, an denen sogar manchmal noch der Ruß zu sehen ist, den die Dampfloks hinterlassen haben. Sogar einen kleinen Tunnel gibt es kurz vor dem Coll de Bas, dem 580 Meter hohen Pass, den man erklimmen muss, um hinüber nach Olot zu kommen.
Spaniens Radwege sind schon speziell, wenn man mit der Vorstellung eines Deutschen von Fernradwegen an sie herangeht. Schon an der Grenze bei Le Perthus hätte mir klar sein können, dass der Wanderpfad, der von Regenerosion zersetzt ist und genau der Route folgt, die das GPS empfiehlt, der Radweg Eurovelo 8 ist – ich bin natürlich dem Teerweg nach Le Perthus gefolgt, ins Grenzstädtchen, und stand erst einmal in einem Autostau. Kein Durchkommen zwischen Gehwegkante und den Autos, weshalb ich es vorzog, bis zur Grenze zu schieben. Am Karfreitag waren die Lederwaren, Tabak- und sonstigen Läden in der Hauptdurchgangsstraße alle offen, Supermärkte, Polizisten, Dieselrußgestank, jenseits der Grenze Nutten, Sexshops, Tankstellen, Weingroßhandlungen und noch mehr Tabakläden – auf veritablem Gefälle rauschte ich auf dem Standstreifen der Nationalstraße an all dem vorbei und traf kurz vor La Jonquera auf den Track des Eurovelo. Ein Schotterweg, irgendwie fahrbar. Sogar Radwegeschilder gibt es. Pirinexus, so heißt der Radweg hier, daneben das Eurovelo-Logo. Hier bin ich richtig . Für etwa 500 Meter. Dann quert der Radweg auf einem Singletrail einen Bach. Unter drei Betonbrücken für Landtraße, Bahnlinie und Autobahn. Nein, es gibt keine Radlerbrücke. Höhnisch weist ein Schild den Radweg durch die Furt aus, die jemand mit dem Quad durchquert hat, so sagt es die Spurenlage.
Ich habe mir zum Glück kein Bild gemacht von spanischen Radwegen. Hatte allenfalls erwartet, dass sie über Landstraßen führen.
Ich muss das Land erst lernen. Seine Ladenöffnungszeiten, seine Grußformeln, seine Radwegelogik. Genug Zeit habe ich ja. (Und überhaupt, Spanien? Aus allen Fenstern hängt die katalanische Flagge und in zahlreichen Graffitis fordert man Autonomie).
Bis zur Küste bei L’Escala folgte ich den Schildern des Pirinexus, die deckungsgleich mit dem GPS-Track meist über Feldwege leiten. Kurz hinter La Jonquera hätte ich beinahe aufgegeben, wäre auf die Nationalstraße zurück, aber das Schieben, gut einen Kilometer hinauf ins Hinterland, hat sich gelohnt. Kurz vor dem Dorf Capmany tat sich eine nigelnagelneue Teerpiste auf, die durch eine wunderbare Art Endmoränengegend (oder wohl eher Vulkan-) führt mit riesigen Felsbrocken zwischen Olivenhainen. Und diese Farben, rotbraungrünolivblaugelb, herrlich. So könnte der Pirinexus also einmal werden, wenn man genug Geld dafür bereitstellen würde. Tapfere spanische Radler, sogar mit Gepäck, kamen mir entgegen. Das gibt mir stets das Gefühl, nicht ganz alleine zu sein, auf dem richtigen Weg zu sein. Offenbar kennen sie gar nichts anderes und nehmen die Wege einfach so hin.
Immerhin, die etwa zehn Kilometer Radwegeausbau geben Hoffnung.
Das vorgestrige Zeltlager nahe L’Escala. Neben einer wilden Mülldeponie in einem Pappelhain. Da ich vermutete, dass früh die Jäger auftauchen, stehe ich mit der Dämmerung auf und beschließe, nicht den Bogen über San Feliu zu machen, sondern samstagsfrüh direkt über Landstraßen nach Girona zu radeln und erst dort wieder in die Via Verde del Carrilet einzusteigen.
Die Via Verde ist ein bisschen besser ausgebaut und recht stark befahren. Mountainbiker rasen einem mit einem Affenzahn entgegen. Dazu Spaziergänger oder Menschen, die einfach nur am Wegrand stehen und starren.
Das erste Stück raus aus Girona ist etwas mühsam. Es führt durch Kleingärten. Auf der zweimeterfünfzig-breiten Piste stauen sich einander entgegenkommende Autos. Irgendwie mogele ich mich durch.
Ab Amet entwickelt sich die Carrilet zu einem waschechten Bahntrassenradweg.
Das Krachen am Rad habe ich noch immer nicht lokalisiert. Ich weiß auch nicht, ob ich es so genau wissen will. Am heutigen Ostersonntag kann mir sowieso niemand helfen. Ein weiteres Wehwehchen, das ich selbst verschuldet habe, war die gestrige Lagerplatzsuche. Was habe ich mir über die Jahre immer eingebläut, fahre nicht bei Dämmerung in eine größere Ansiedlung und trotzdem stehe ich plötzlich am Stadtrand von Olot. Der Camping Natura von Les Preses war dem feinen Herrn ja nicht gut genug. Die Felder in der weiten Ebene schienen ihm ja zu gut einsehbar, zu sandig, zu sehr mit Weizen bebaut, zu eingezäunt, zu privatbesessen, kurzum zu illegal und der Lavapark zwischen Les Preses und Olot, der die ein oder andere gute Zeltmöglichkeit geboten hätte, wer weiß, wer sich da nachts rumtreibt.
Zugegeben, auf dem Camping Natura wäre ich nicht glücklich geworden. Dicht an dicht standen Wohnwägen und etliche Hunde verbellten sich in verzweifelter Reviermarkiererei gegenseitig. Der Stress der Tiere hätte sich die ganze Nacht auf mich übertragen und wer weiß, ob überhaupt ein Plätzchen frei gewesen wäre. Ich peile einen Camping vier Kilometer außerhalb von Olot an und verlasse in der Dunkelheit die Stadt. Steil bergauf. Erster bis dritter Gang. Massiver Verkehr, Warnweste, Rücklicht, Schwitzen, Sternenhimmel. Am Ortsrand meine ich, nicht mehr zu können. Das Monster, nachts berghoch auf dieser Straße, zwei Kilometer weit und womöglich vor verschlossener Tür zu stehen, krallt sich in meine Schädeldecke. Ich schaffe mich rüber auf eine Wiese, die gut zeltbar wäre, aber sogleich schlagen die Hunde in der Nachbarschaft an. Wenn man zwischen den Hundegebellen Linien zieht, kann man auf den Meter genau das Europennerlager ausmachen.
Schon überlege ich, zurückzufahren zum Hotel Fluvia, das ich passiert habe. Da kommt mir in den Sinn, auf dem GPS Satellitenbilder einzublenden, um herauszufinden, ob hier etwas zeltbares ist. Tatsächlich, gleich um die Kurve, erster Weg links, Wiese, Waldstück, kein Farmhaus sichtbar, also auch keine Hunde.
Ich ächze weiter. Die Kurve ist da, aber ich kann den Weg nicht finden. ächze weiter berghoch, da, ein Schild. Der Camping. Nur einen Kilometer entfernt. Das schaffe ich.
Und Uff. Endlich da. Camping offen, Rezeption zu. Eine späte Pfadfindergrupe mit 21 Kilometern in den Beinen gesellt sich zu mir. Und sie machen einen Wachmann ausfindig. Diese Engel. Und der Platzwart kommt noch einmal aus dem Feierabend, registriert uns alle.
Gebeutelt, erschöpft, wie Lemminge, verkriechen wir uns in einem kleinen Wäldchen und bauen im Schein der Stirnlampen die Zelte auf.