„Elf Blätter brauchen wir noch, Marietta, elf Blätter und ein bisschen Tinte“. Er ging zum Safe, drehte die Kombination, öffnete und nahm einen Umschlag heraus, in dem sich 250 Euro befanden. Der klägliche Rest aus der Barschaft. Wie viele Scheine wohl in den letzten Jahren diesen Safe durchwandert hatten? Sowohl im Lager, als auch in den Kassen und auf den Konten herrschte einst reger Waren- und Geldverkehr. Marietta hätte eigentlich nicht kommen müssen an diesem letzten Tag. Die Übergabe hätte er alleine machen können. Er räumte seine Habseligkeiten vom Schreibtisch, das Bild seiner Familie, einen Wimpel, den er beim Radfahren in Österreich letztes Jahr im Straßengraben gefunden hatte, auf dem geschrieben stand, ‚Geprüfter Radfahrer‘, was auch immer das auf spanisch heißen mochte, sein silbernes Feuerzeug und eine Zigarre, die ihm einst ein kubanischer Kollege geschenkt hatte. Dass er Marietta nun in die Unwägbarkeiten des spanischen Arbeitsmarktes oder besser gesagt Arbeitslosenmarktes entlassen musste, tat ihm besonders weh.
Auf dem Laptop schickte er elf Dateien an den Drucker und druckte drei i, ein L, ein ó, ein q, ein a, ein n,ein d, ein u und ein t in fetter schwarzer Schrift je auf ein Blatt. Als Marietta die Blätter brachte, drückte er ihr den Umschlag mit den 250 Euro in die Hand und bedankte sich. Er unterdrückte die Tränen.
Mit Klebestreifen befestigten sie die Blätter gemeinsam an der getönten, riesigen Scheibe die nur eine von vielen war an dem knapp sechzig Meter langen Möbellager mit Schauraum und Büros. Es würde ein warmer Frühlingstag werden. Der Westwind brachte klares Wetter und Sonne.
L I Q U I D A T I O N
Er ließ sich in seinen Drehstuhl fallen, legte die Füße auf den Schreibtisch, was er sonst nie tat, und schaute nach draußen, wo gerade ein schwer bepackter Reiseradler vorbei radelte, der neben den üblichen wasserdichten Packtaschen noch ein großes grünes Paket der spanischen Post auf dem Gepäckträger mitschleppte.
Ich.
Schon an der Küste hatte ich überlegt, dass es langsam an der Zeit ist, die Winterklamotten und einiges anderes überflüssiges Zeug mit der Post nach Hause zu schicken. Da kommt mir die Correjos – so heißt in Spanien die Post – neben einer Bäckerei, in der ich mich mit Brot und Leckereien eindecke, gerade recht. Schon habe ich ein Faltpaket für Drei-Euro-Nochwas erstanden und räume vor der Tür sämtliche Packtaschen leer und stopfe alles Überflüssige in den Karton. Die Kirchturmuhr schlägt zwölf. An der Tür hängt ein Schild, dass bis 14:30 geöffnet ist. Das Paket von vielleicht sechzig mal fünfunfzwanzig mal sechzig Zentimetern ist beinahe zu klein für all das Zeug und mit einem ‚wird-schon-nicht-so-teuer-sein’-Lächeln kehre ich zum Schalter zurück, fülle die Internationalpapiere aus, da tippt mich der Mann am Schalter an und zeigt auf den Preis, 42 Euro, ich falle fast vom Hocker, 42 Euro für drei Kilo Zeugs, das kaum so viel wert ist, wie der Preis fürs Porto. Wenn ich auf zwei Kilo reduziere, sagt der Mann, kostet es nur 20 Euro.
Ich mache eine Drehbewegung mit dem Finger vor der Stirn und sage, da muss ich nochmal nachdenken, pensar, sie wissen, und er lächelt und ich schnalle das ganze unnütze Zeug samt Karton auf den Gepäckträger und radele weiter Richtung Villena auf der recht stark befahrenen Straße CV 81. Es gibt zwar auch eine Wanderwegalternative, aber die ist teilweise so holprig, dass es mir den Tag vermiesen würde, da entlang zu ächzen. Zudem fällt die Straße gut zehn Kilometer weit so stark, dass ich mit dreißig Sachen dahin brause. Alles in allem erträglich. Diese fiesen, unsichtbaren Steigungen! In dem total flach erscheinenden Land, das von runden Bergen weit in der Ferne umringt ist, merkt man gar nicht, dass man sich eigentlich auf einer schiefen Ebene befindet. Ich erinnere mich, dass ich einmal auf der Südseite der Pyrenäen beinahe verzweifelt wäre, als ich solch eine unsichtbare Steigung kilometerweit hinaufkurbelte*. Dein Hirn sagt, es ist doch topfeben hier; wegen des Mangels an Anhaltspunkten, kann es die Steigung nicht erkennen.
Nur diese schnurgerade Linie und ich.
Die CV 81 führt weiter bis Yecla, schon überquere ich die Grenze zur Region Murcia. Rechts und links der Straße sind Gewerbegebiete ausgewiesen. Durstiges, von kümmerlichem Gras bewachsenes Land, in dem Schilder stehen, zu verkaufen, 18.000 Quadratmeter für 84.000 Euro, voll erschlossen mit Wasser und Stromanschluss, oder manchmal steht auf den riesigen Tafeln nur eine Quadratmeterzahl und eine Telefonnummer. Je näher ich Yecla komme, desto mehr sind die Grundstücke bebaut. Riesige, zig Meter lange Lagerhallen oder Gewebekomplexe, Glaspaläste, teils zerfallen, teils nicht fertig gebaut, meist zu verkaufen und nach ein paar Kilometern beginnt dann offenbar so eine Art Möbelstrich. Ein Möbellager am anderen, hier die Sofas, da die Betten, dort die Küchen usw., je näher an Yecla, desto ‘sofa’, stelle ich fest. Wer zur Hölle braucht so viele Möbel, frage ich mich. Niemand. Niemand mehr, denn an den meisten dieser Hallen hängen Schilder, dass sie zu verkaufen sind, dass sie neueröffnet werden oder wurden, Liquidatión steht in vielen der riesigen einstigen Schaufenster, jeder Buchstabe auf ein einzelnes Blatt Papier gedruckt und mit Tesafilm von innen festgeklebt. Schon in Villena sind mir einzelne Liquidationsschilder aufgefallen, aber hier? Die Sierra de la Liquidatión ist das wohl.
Am Ortsrand von Yecla steht ein überdimensionales Denkmal für die Möbelbauer aus dem Jahr 2004 oder 2001, ich erinnere mich nicht genau an das Datum, das auf der Tafel am Sockel stand.
Die Stadt ist mir unheimlich. Sie wirkt wie ein abgenagter Knochen, an dem einmal viel Fleisch war. Mir graut davor, die dreißig Kilometer ins Outback westlich der Stadt zu radeln, denn auf das Zelten in einem ehemaligen Industriegelände habe ich gar keine Lust. Einen Campingplatz gibt es nicht. Die Stadt selbst, ich könnte ein Zimmer nehmen, fühlt sich nicht gut an. Gegen 18 Uhr schufte ich mich hinaus Richtung (irgendwas mit Á und der Name wird im GPS nicht angezeigt, später recherchieren. Fuente Álamo → done); das seien 25 Kilometer, sagt mir ein Tankwärter am Ortsrand. Das Sträßchen ist kaum befahren. Es gibt sogar einen Radweg hinaus aus der Stadt, der bis zum streng umzäunten Tennisclub führt. Danach: kaum befahrene schiefe Ebene, Landwirtschaft, Wein und Oliven. Einzelne Gehöfte. Ein Hotel außerhalb, aber da habe ich längst ein Wäldchen angepeilt und ächze mit 10 bis 15 km/h die schiefe Ebene hinauf bei wunderbarstem Sonnenschein. Alles passt. Beim Wäldchen finde ich einen Lagerplatz unter Kiefern, halbwegs windgeschützt und nun sitze ich in der Morgensonne auf einem Stein und tippe diese Zeilen. Das Netz fluktuiert mit dem Wind, meist ist hier oben auf 800 Metern Höhe kein Empfang.