Ich weiß nicht, ob an der vielzitierten Sache mit dem Frosch und dem kochenden Wasser etwas dran ist, ob der Frosch, wenn man ihn langsam im Topf erhitzt so lange sitzen bleibt, bis er den Hitzetod erleidet, aber wenn man ihn direkt in kochendes Wasser wirft sofort herausspringt. Die Sache passt jedenfalls auf das Thema Schere, das ich vor einigen Blogeinträgen schon einmal aufgegriffen hatte. Die viel zitierte Schere zwischen Arm und Reich, ein simples Abbild unserer Welt. Eine aufgeklappte Schere, bei der die einen auf der einen Spitze hocken und sich die Bäuche vollschlagen, während die anderen auf der gegenüberliegenden Spitze in Hunger und Elend verkommen. Das Bild passt eigentlich auf alles, was mit Wirtschaft und menschlichem Miteinander zu tun hat. Vom ganz kleinen bis ins ganz große. Die Schere verdeutlicht das Auseinanderklaffen des Wohlstands verschiedener Staaten ebenso wie das Auseinanderklaffen des Wohlstands verschiedener Gesellschaftsschichten, ja, man könnte die Schere sogar bis ins Familiäre hineindenken, und letztlich zu dem Schluss gelangen, das ist doch eine ganz natürliche Sache, mal gewinnt man, mal verliert man und was die einen zu wenig haben, das gehört eben den anderen, die es ihnen auf mehr oder weniger ehrliche Weise abgeschwätzt haben.
Wenn wir nicht so hochnäsig wären und uns als Menschen und Gottes Schöpfung, als die von höherer Kraft auserkorenen Herrscher und Hüter der Welt sehen würden, sondern als das, was alles auf dieser Welt ist, ein Stück Natur, das sich im steten Wachsen und Niedergehen in einem gemeinen unbarmherzigen Kampf untereinander und mit anderen Arten befindet, könnte man zu dem Schluss kommen, alles ist in Ordnung mit dieser Welt. Die vielen kleinen Schweineställe etwa mit den abgedichteten Fenstern, die einem schon kilometerweit, je nach Windrichtung, entgegenstinken und aus denen, wenn man ihnen nahe genug kommt, gar erbärmliche qualvolle Schreie kommen, wären in einer Mensch gleich Tier-Welt ohne jegliche Moral vollkommen in Ordnung. Da würde es kein Mitgefühl geben, da müsste man sich nicht in das Wesen anderer Wesen versetzen, es wäre völlig okay, dass es Lebewesen gibt, die ihr Lebtag kein Tageslicht sehen, die dicht an dicht im eigenen Kot gemästet werden, die erzeugt werden, um geschlachtet, kleingehackt in ihren eigenen Darm gepresst, gefressen zu werden. Eine Ware wie du und ich.
Denn wir machen ja mit der Mästerei nicht vor der eigenen Art Halt, wir Menschen. Wir halten uns sozusagen selbst als Massentier, indem wir etwa in Feriensiedlungen wie Nutztiere uns für ein geringes Geld einmieten und Gewinne produzieren. Alles ist durchgeplant. Kollektiv gebe wir unser Okay, indem wir die auf solch üble Weise produzierten Waren kaufen und konsumieren.
Hätte ich in Oropesa bloß besser aufgepasst. Gerade habe ich eine halbe Stunde lang das schwer bepackte Fahrrad eine exorbitante Steigung, sagen wir einmal zwanzig, fünfundzwanzig Prozent hinaufgeschoben, treu dem GPS-Track der Mittelmeerroute folgend, da sehe ich vom Mirador, vom Aussichtspunkt, aus einen schönen, flachen Weg unten am Meer. Eine hunderte Meter lange Treppe führt hinunter in die Bucht und der Weg sieht aus wie ein Bahntrassenradweg. Und er entpuppt sich, zwanzig, fünfundzwanzig Prozent steil weiter unten auch als solch einer. Irgendwo in Oropesa muss er begonnen haben, führte vermutlich durch einen Tunnel und ich habe ihn übersehen. Egal. Den Rest der Strecke radele ich durch tief in den Fels gehauene Schluchten bis nach Benicàssim, mehr noch, die Radwege führen einfach weiter, zwar entlang der Straße, aber vorbildlich ausgestaltet mit Kreisverkehrdurchquerungen und Wegweisern und allem Pipapo bis nach Castellón. Die Gegend scheint ein wahres Radlerparadies. Man sollte alle spanischen Radwegebauer nach Benicàssim, Oropesa, Castellón in die Schule schicken.
Regen in Castellón. Raus aus Castellón. Der Radweg folgt offenbar einer alten religiösen Route in Richtung dreier Eremitagen oder Kirchen, wenn ich die Schilder richtig deute. Und mitten hinein in die Orangengegend. Tausende, Abertausende, Millionen Orangenbäume, kleine grüne Bubiköpfe, manche davon in voller Blüte. Herrlich, dieser Duft. Wären da nicht die Aschehaufen alle paarhundert Meter, von denen manche noch glühen und dampfen. Direkt am Straßenrand. Man erkennt die Überreste von Möbeln, Kunststoff, Paletten, Sperrmüll. Neben manchen stehen Stühle, mal sogar ein Sofa, als mache man es sich neben den Feuerchen gemütlich. Wozu? Nachmittagssiesta. Dicke Autos, Mercedes, VW, Kleinlaster, und ganz normale Minitransporter aus dem Hause Peugeot oder Renault passieren mich. Ein Touran schneidet mich, direkt neben einer Pfütze, wie Schmutz komme ich mir vor, als die ersten Nutten auftauchen. Neben den Feuern sitzen oder stehen oder staksen sie in ihren Hotpants und den Strumpfhosen und den hochhackigen Schuhen, palavern miteinander, lassen sich beschauen aus den Autos wie Fleisch, das man auf Trichinen untersucht, vier, fünf Kilometer weit raus aus Castellón und das Ganze inmitten allen Grüns, das nie zu enden scheint bis hinüber nach Burriana und auch dort geht der grünste Straßenstrich der Welt offenbar noch weiter, obschon bei dieser Kälte und dem Mieswetter und außerhalb der Erntesaison kaum Freier kommen. Ich stelle mir die Abende im Hochsommer vor, wenn hier ordentlich was los ist. Da wäre es mir ganz anders, mulmig, dreckig, obszön und an allen Hauswänden und Mäuerchen steht gesprayt Putas con Sida, Nutten mit Aids. Wie Hohn ragt in regelmäßigen Abständen ein feinsäuberlicher katholischer Heiligenschrein am Wegrand.
Erst nach Montcofa, das wie ausgestorben wirkt, bessert sich die Straßenstrichlage. Plötzlich Stille. Kaum ein Auto. Nein, gar keine Autos auf einer nagelneuen Straße, die nach Sagunt führt. Links kann man das Meer hinter verlassenen Appartementssiedlungen rauschen hören. Überall hängen Zu Verkaufen-Schilder, manchmal auch verzweifelte Zu Vermieten-Notrufe. Vorsaisonal ausgestorben. Da, ein Kind auf einem Fahrrad in einem leeren Spielgelände, ein gebückter Mann, woher, wohin. Ich komme mir vor wie in einem Endzeitfilm, ach was, das ist die Endzeit. Ist das das Spanien nach dem Platzen der Immobilienblase, von dem mir @hagengraf und @christinegraf erzählten? Nahe Valencia, sagten sie. Könnte hinhauen. Könnte aber auch sein, dass es hier im Sommer heiß hergeht. Immerhin sind die Anlagen bestens gepflegt. Die Überreste einer Massenpleite stelle ich mir anders vor. Dennoch lasse ich der Phantasie ihren Lauf. Könnte so unsere Welt enden, wenn der menschliche Nutztiermarkt dereinst zusammenbricht?
Ich weiß es nicht. Ich beobachte nur, beobachte die Gerippe einst blindwütigen Baubooms, bis tief hinein in die Innereien der Zementindustrie, des Versicherungswesens.
Was bleibt sind kahle Bauten, umgeben mit Stahlgittern, für immer heruntergelassene Rollläden, verwildernde Gärten, Alarmanlagen, hie und da der Kleinwagen eines hoffnungslos überforderten Securityservice, der argusäugig durch leere Straßen kurvt. Vielleicht irre ich und im Sommer sieht das hier alles anders aus.
Als ich das Nachtlager neben einer Grünbfallhalde aufbaue, wird mir klar, dass ich ein Teil der Schere bin, die ich zu Beginn dieses Artikels zitierte, dass ich hierher gehöre, als gestrandeter Europenner inmitten gelebten Lebens. Dass ich auf dem ärmeren Teil der Schere sitze, wurde mir schon in den Vogesen klar, wo ich mir die winterlichen Übernachtungen in Hotels oder Pensionen nur dank großzügiger Spenden leisten konnte. Im Laufe der Reise verdichtete sich dieser Frosch-Heißwasser-Gedanke, dass ich ein Frosch bin, den man nach jahrelanger Abstinenz vom Markt in ein überhitztes Etwas aus hohen Preisen gibt; wäre ich jedes Jahr mit dem Fahrrad durch Europa gekurvt und hätte immer brav gezeltet, würde ich mich über Zeltplatzpreise von fünfzehn zwanzig Euro bestimmt nicht wundern, aber zwischen einem Preis von sieben Franc auf dem -zugegeben, das war eine Absteige – Zeltplatz in Feurs/Frankreich im Jahr 2000 und 25 Euro vorgestern am Eukalyptusstrand … verflixt wie heiß.
Turboschreiben, der Europenner auf Hochtouren, inmitten von Fleischbeschau und Seltsamgefühlen. Da hockt er auf der einen Seite der Schere (wie auch ich) und schreibt das beste Zoix über unser Hier und Jetzt, das ich seit langem gelesen habe!
Und ja, im Sommer soll es dort ganz anders aussehen, sagte man gestern im Radio, Spanien (besonders die Mittelmeerküste) ist ungebrochen das Lieblingsurlaubsland der Deutschen und die Nachfragen sind in diesem Jahr so hoch, dass sie ihre vorhandenen Betten gleich dreimalig vermieten könnten und dann … ja, dann wird bestimmt bald wieder fleissig gebaut, bis zur nächsten Bankenkrise, die die Spanier, sagte das Radio, nun überwunden haben, also die gerade vorübergehende, an der Portugal noch immer knabbert. Die 50%ige Jugendarbeitslosigkeit wandert ab ins europäische Umland, auch gerne nach D … Wieso kamen die Menschen eigentlich auf die Idee Banken zu trauen? Und wieso überhaupt Banken? Ach so, wegen dem vielen Gold und den Diamanten und so oder war das alles doch ganz anders.
Ja,ja ich höre schon auf. Winkewinke und danke für heute
Ulli